| Der Weltkrieg, werden wir niemals mit damit fertig? Nein, das werden 
          wir nicht. Er wird uns immer in Anspruch nehmen, auch die Schriftsteller, 
          so wie heute, 55 Jahre nach Ende des Krieges, sprudelt er immer noch 
          als sei er eine unversiegbare Quelle.
 Der letzte in der Reihe ist Roy Jacobsen, einer unserer führenden 
          Schriftsteller, umsichtig in der Auswahl seines Themas, tiefgehend in 
          seiner Menschenschilderung, scharf in der Analyse sozialer Beziehungen, 
          ein Mann mit Fantasie, aber auch einer, der es genau wissen will, fanatisch 
          in seiner Jagd nach tatsächlichen Geschehnissen, aus denen er Erzählungen 
          schaffen kann.
 
 In "Grenzen" holt er all das hervor, mischt Fakten mit Fiktion, 
          spielt gekonnt auf der Klaviatur - einiges erscheint sogar ganz neu. 
          Teile des Romans können als Kriegsreportage gelesen werden und 
          Jacobsen bekleidet die Rolle des Kriegskorrespondenten mit Bravour. 
          Als Reporter ist er nicht selbst zur Stelle, er spricht vielmehr durch 
          die Personen, die er an die wichtigsten Frontabschnitte versetzt hat 
          - an die Ostfront des Winters 1942/43, nachdem Hitlers siebte Armee 
          dabei war,
 zusammenzubrechen unter dem Würgegriff der Russen und in die Ardennen 
          während des letzten Versuchs der Deutschen, sich gegen die alliierte 
          Invasion zur Wehr zu setzen.
 
        Militärgeschichte
 Auf diese Schilderung hat Jacobsen viel Energie verwandt. Er beschreibt 
          die äußeren Fakten, den großen Marsch der Militärgeschichte 
          sozusagen, so, wie wir sie kennen und zum größten Teil authentisch, 
          soweit ich (d.i. Øystein Rottem, Anm. d. Red.) das beurteilen 
          kann.
 
 Der Roman zeugt von gründlichen Studien und solidem Können. 
          Vielleicht wird mancher Leser ermüden ob der vielen Informationen 
          über Truppenversetzungen und Pläne für den Rückzug 
          oder Angriff.
 
 Ich (d.i. Øystein Rottem, Anm. d. Red.) empfinde das nicht so. 
          Denn selbst während der langen Erzählung vom Militärlager 
          Novotjerkassk am Don-Becken, die einen der Schwerpunkte des Romans ausmacht, 
          ist immer auch der Dichter zur Stelle - der, der am meisten am Menschen 
          im Krieg interessiert ist, mit all seiner Hoffnung und Verzweiflung, 
          Freude und Angst, Furcht um einen Sohn, der sich auf der anderen Seite 
          der Front befindet, Furcht vor der Niederlage, involviert und ausgeschlossen 
          zur gleichen Zeit.
 
 So auch der Belgier Markus Hebel, Elektroingenieur und Offizier an der 
          Ostfront, ein Mann, mit wenig Verständnis für Hitlers Hirngespinste 
          über ein großgermanisches Reich. Ein Mann, der seine Pflicht 
          tut, einer, der nicht unter die Räder der Geschichte gerät, 
          sondern der zurückkehrt und
 erzählen kann, der das aber nicht tut, jedenfalls nicht sofort, 
          der wählt, zu schweigen, der sich blind stellt - bis in die 60er 
          Jahre hinein, als er sein Geheimnis preisgibt und seine Geschichte dem 
          jungen Robert erzählt, einer weiteren Hauptperson des Romans.
 
 Auch er ist ein Produkt des Krieges, empfangen während eines heftigen 
          Schusswechsels, eine extatische Atempause mitten im Wahnsinn des Krieges, 
          Sohn eines kanadischen Soldaten auf der Flucht und einer belgischen 
          Krankenschwester.
 
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Robert wohnt zusammen mit seiner Mutter. Sie wohnen in der Nähe 
          von Hebel und seiner Frau, in Luxemburg, diesem Lilliputaner-Staat nahe 
          der deutschen Grenze, dessen Einwohner drei verschiedene Sprachen sprechen, 
          ein Mischstaat, der absolute Gegensatz zu den perversen Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung:ethnischen Reinheitsidealen der Nazis.
 
 Hier lebt man an Grenzen, ohne den Zwang, diese zu verändern, das 
          Sinnbild der Idee von der Zufälligkeit der Grenzziehung, so wie 
          sie in dem einleitenden Prolog über den Bauern zum Ausdruck kommt, 
          der auf der einen Seite der Grenze wohnt und sein Eigentum auf der anderen 
          Seite der Grenze hat und die Behörden um die Erlaubnis bittet, 
          eine Brücke zu bauen, damit er seine tägliche Arbeit verrichten 
          kann.
 
 Alltag
 
 Hier treffen wir eine Reihe Nachbarn und Zufallsbekanntschaften: Maria, 
          Roberts Mutter Nella, Markus' Frau Léon, auch ein Opfer des Krieges, 
          das schweigt, zwangsentlassener Soldat und Deserteur, seine "unechte" 
          Frau Agnes, den Vater Rampart und weitere mehr.
 Hier sind wir zurück im Alltag, aber in einem Alltag im Schatten 
          des Krieges. "Grenzen" ist ein Roman über Grenzen zwischen 
          Nationen und zwischen Menschen. Nationen sind die Summe der Menschen, 
          die dort wohnen und Grenzen sind etwas vom Menschen geschaffene, etwas, 
          das bestehen bleiben oder verändert werden kann, etwas, das eine 
          Sperre sein kann, aber auch etwas, das überwunden werden kann - 
          eine abstrakte Fiktion in einer konkreten Landschaft.
 
 Nachwirkungen
 
 Der Roman handelt von Menschen, die nahe einer Grenze leben, von Menschen, 
          die in einem Krieg leben - und nach einem Krieg. Er handelt davon, was 
          der Krieg aus den Menschen macht, welche Nachwirkungen er mit sich zieht, 
          ein Roman über das, was man erinnert und das, was man niemals vergessen 
          kann, über das, was man am liebsten verschweigen und vergessen 
          will, über das, was man weiter erzählen will, damit es nie 
          wieder Krieg gibt und über das, was man verschweigen will - aus 
          dem selben Grund.
 Alexandra Hagenguth/
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