| Kriminalroman oder ökologisches Manifest? "Die Pinocchio-Papiere" 
          von Tor Åge Bringsværd
Bereits der Umschlag von Tor Åge Bringsvaerds 
          "Die Pinocchio-Papiere" lässt den Leser erahnen, dass 
          es sich hierbei um ein außergewöhnliches Buch handeln muss: 
          Ganz dem Titel gemäß, sieht man eine Pinocchio Figur, die 
          allerdings aus einem Reagenzglas herauslugt. Um ein altes, vergilbtes 
          Buch - oder ist es der Holzstamm, aus dem Pinocchio geschaffen wurde? 
          - rankt sich eine Pflanze, aus der wiederum selbst ein Reagenzglas zu 
          wachsen scheint. Auf der Innenseite des Umschlags liest man dann, dass 
          dies die Geschichte darüber sei, was später geschah. Nur mit 
          anderen Augen gesehen. Dreht man das Buch nun um, lassen sich auf der 
          Rückseite Fingerabdrücke erkennen. Handelt es sich also doch 
          um einen Kriminalroman, wie schon der Titel andeutet? Nun, um gleich 
          den vielleicht wichtigsten und fast schon leitmotivisch auftauchenden 
          Satz aus den "Pinocchio-Papieren" zu zitieren: "Wir wissen 
        es nicht."         
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Aber der Reihe nach. "Die Pinocchio-Papiere", die bereits 
          1978 erschienen, ist die Geschichte des norwegischen Folkloristen Jonas 
          Rafn, der sich in Ungarn auf die Suche nach seinem verschwundenen Kollegen 
          und Freund Varga macht. Er findet Vargas letztes Manuskript zum Märchen 
          vom "Blumenpeter", lernt die geheimnisvollen Lilli und Maja 
          kennen, macht sich mit Major Szluka auf die Suche nach Varga, wird am 
          Ende selbst in die Sache verstrickt und kommt schließlich am Ende 
          bei dem Versuch um, dem skrupellosen Wissenschaftler Dr. Farkas das 
          Handwerk zu legen. In einem apokalyptischen Ende überlebt nur Lilli, 
          und die ganze Sache scheint für Major Szluka so verworren, dass 
          er damit rechnet, dass dieser Fall wohl bald zu den Akten gelegt werden 
          wird. Nähme man nur diese Rahmenhandlung, so könnte man meinen, 
          man hätte es mit einem meisterhaften Kriminalroman, beinahe in 
          James Bond Manier, zu tun. Wäre da nicht eben jenes Pinocchio Papier, 
          Vargas letzte Aufzeichnungen vor seinem Tod, um derentwillen er schließlich 
          ermordet wird.Tor Åge Bringsværd: "Die Pinocchio-Papiere". Aus 
        dem Norwegischen von Roman Steinlin. 192 S., dreamis, 
        Zürich 2004. ISBN: 3-905473-02-XVargas Manuskript, ein Sammelsurium an eklektisch zusammengestellten 
          Materialien, die von persönlichen Notizen über Briefe bis 
          hin zur vermeintlich von Pinocchio selbst verfassten Biografie reichen, 
          ist als Abbild der kriminalistischen Rahmenhandlung zu sehen. Denn was 
          die Pinocchio Papiere postulieren, ist die Existenz zweier Welten, einer 
          sichtbaren und eben einer unsichtbaren, beseelten Welt, einer Welt, 
          die der Mensch zwar als Natur in Form von beispielsweise Bäumen 
          und Pflanzen wahrnimmt, von deren Innenleben er aber nichts weiß. 
          Ganz im Gegenteil hat der Mensch "die Natur immer als Feind betrachtet. 
          Als etwas, das es zu überwinden gilt" , was ihn schließlich 
          ganz wörtlich "entwurzelt" hat. Der Blumenpeter und Pinocchio 
          werden deshalb in Vargas Manuskript paradigmatisch als Verwurzelte dargestellt, 
          "[d]enn Pinocchio war natürlich vom Walde erschaffen - hervorgetreten 
          aus dem Pflanzenreich, wie alle Blumenpeter' vor ihm." So 
          kommt es am Ende, dass Major Szluka, der von der Existenz der zweiten 
          Welt nichts weiß und der Jonas als Freund verloren hat, weil er 
          ihm seine Berichte von ihr nicht glaubte, von alledem nichts versteht. 
          Er sieht nur die große, alles verschlingende Feuersbrunst in Dr. 
          Farkas Klink, versteht aber nichts von dem Kampf, der in einer anderen 
          Welt stattgefunden hat.
 So wie diese Feuersbrunst, so scheint auch Bringsværds Roman alles 
          verschlingend. Er wiedersetzt sich jeglicher finalen Interpretation, 
          weshalb auch die ökologische nur unvollständig bleibt. Dem 
          Leser, der von alldem noch nicht abgeschreckt ist und der bei dem leitmotivischen 
          "Wir wissen es nicht" nicht stehen bleiben will, bleibt keine 
          andere Wahl zur Vervollständigung des Textes zumindest einige von 
          Bringsværd mehr als zahlreichen Quellen nachzulesen. Dies macht 
          zwar noch keinen Kriminalroman, spannend ist es aber allemal.
 
 Vielen Dank an Gideon Perret aus Herxheim
 © Januar 2005 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien
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      | Vielschichtiger Märchen-Krimi über Mythologie, Forschung 
        und Ethik "Die Pinocchio-Papiere" 
          von Tor Åge Bringsværd
"Die Pinocchio-Papiere" spielen 1978 und 
          im Mittelpunkt stehen der norwegische Folklorist Jonas Rafn, sein verschwundener, 
          ungarischer Kollege Varga sowie Pinocchio und seine Seelenverwandten, 
          alle künstlich geschaffenen Wesen, aber auch Bäume und Pflanzen.Jonas Rafn erreicht ein dramatischer, rätselhafter, telegrafischer 
          Notruf seines Kollegen und Freundes Varga: "Hilf mir. Der Drache 
          ist zurück." Als Jonas in Budapest eintrifft, findet er Vargas 
          Wohnung verwüstet, von dem Wissenschaftler fehlt jede Spur. Zusammen 
          mit Lilli, die er zufällig beim Befragen der Nachbarn Vargas kennen 
          lernt und in die sich Jonas blindlings Hals über Kopf verliebt, 
          macht er sich auf die Suche nach seinem verschwundenen Freund. Zunächst 
          geschieht dies im Einvernehmen mit Major Szluka, doch schon bald gerät 
          Jonas selbst unter Verdacht.
 Jonas gelangt schließlich in den Besitz von Vargas Manuskript, 
          in dem dieser beschreibt, wie er an Pinocchios Selbstbiografie geraten 
          ist. Die Darstellung Pinocchios unterscheidet sich drastisch von der 
          Geschichte, die uns Carlo Collodi erzählt. In Vargas Manuskript, 
          ein fragmentarischer Dramatext, ist Pinocchio ein Misshandelter auf 
          der Suche nach Wahrheit, Freiheit und der eigenen Identität. Dabei 
          wird er jedoch ständig von der guten Fee, die sich im Verlauf der 
          Lebensgeschichte Pinocchios alles andere als gut erweist, behindert. 
          Sie ist mehr der strafende denn der rettende Engel.
 Pinocchios Identität liegt schließlich in der Einheit mit 
          der Natur. Erst als Pinocchio eine Metamorphose durchläuft und 
          buchstäblich zum Baum wird, findet er seinen Seelenfrieden und 
          Antwort auf alle Fragen. Eine parallele Entwicklung macht Jonas durch, 
          dem "alles Holz" zur Flucht aus Major Szlukas Gefängnis 
          verhilft und der sich am Ende mit der Natur metamorphosisch vereint.
 Das Schauspiel, auf das Varga sich in seinem Manuskript bezieht und 
          von dem er vehement behauptet, dass Pinocchio selbst es geschrieben 
          habe, ist eingeflochten in weitere Textformen: Dokumente, Briefe, Notizen. 
          Dabei handelt es sich in der Hauptsache um moderne, auf Fakten beruhende, 
          naturwissenschaftliche Theorien, die behaupten, dass auch Pflanzen hören, 
          sehen und fühlen können. Dies sind durchaus umstrittene, jedoch 
          empirische Befunde, die wir mit den herkömmlichen Naturgesetzen 
          nicht erklären können. Das "Übernatürliche", 
          das "Abenteuerliche" und "Nicht-reale" erhält 
          Einzug in den Text, wie gleichzeitig Mythen, Legenden und narrative 
          Texte zitiert werden, die immer nur von dem einen handeln, von künstlichem 
          Leben, künstlicher Intelligenz, von von Menschenhand geschaffenen 
          Wesen, mechanischen Menschen (Robotern), synthetischen Menschen und 
          biodynamischen Maschinen (Androiden).
 Die Quellen, auf die sich Varga/Bringsværd bezieht, lesen sich 
          wie eine kultur- und geisteswissenschaftliche Enzyklopädie der 
          letzten 2000 Jahre dazu. Auf dieser enzyklopädischen Reise begegnen 
          wir Ilias, Albertus Magnus, E.T.A. Hoffmann, H.C. Andersen, Karel Capek, 
          den Erzählungen des Talmud und den Mysterien der Kabbala, Mary 
          Shelley, H.G. Wells, Goethe, begegnen wir dem Golem des Rabbi Löw 
          ebenso wie Mary Shelleys Frankenstein, Androiden, Capeks Robotern, Homunculi 
          und Goethes Faust.
 Zusammen mit den naturwissenschaftlichen Abhandlungen wird so das Übernatürliche, 
          das Unerklärliche, konstituierend für den Text, sowohl für 
          die Roman-externe Wirklichkeit, die gewisse Befunde, die ein Fühlen 
          von Pflanzen nahe legen, nicht erklären kann, als auch für 
          die text-interne Wirklichkeit, in der Jonas glaubt in einem brennenden 
          Hotelzimmer zu erwachen, das sich schließlich aber als völlig 
          unversehrt erweist. Die Grenze zwischen dem "Natürlichen" 
          und dem Übernatürlichen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit 
          verschwindet zusehends im Romanverlauf.
 Als weiteres narratives -unerklärliches, übernatürliches 
          - Element findet sich Vargas Blick in Form von Gedankentraktaten im 
          Text eingeflochten.
 Varga wurde von Dr. Farkas, einem zynischen, verrückt erscheinendem 
          Wissenschaftler, entführt. Dr. Farkas, dem auch Jonas lange vertraut, 
          benutzt Varga als Versuchsperson für seine makaberen biologischen 
          Experimente und operiert Vargas Gehirn heraus, das er dann eine Symbiose 
          mit einer Schlingpflanze eingehen lässt. Vargas Gedankenwelt nach 
          der Entführung erzählt von der Sprache hinter der - logischen, 
          menschlichen - Sprache.
  Am Ende werden alle Handlungsstränge zusammengeführt 
          und wir werden Zeuge eines archaischen Kampfes auf Leben und Tod, zwischen 
          Gut und Böse. Lilli, die Jonas von Dr. Farkas ebenfalls entführt 
          glaubt, erweist sich als Lilith, als der Nachtdämon, der Vampir, 
          als Adams erste Frau, die Schlange - Vargas Manuskript bietet hier verschiedene 
          Interpretationsmöglichkeiten unter den Mythen und Legenden zum 
          von Menschenhand geschaffenen Lebewesen.Quelle:Dr. Farkas ist der Drache, der Menschenopfer fordert. Lilith will Jonas 
          zum neuen Drachen machen, der zunächst die finale Szene verblendet, 
          verständnis- und ahnungslos betritt, um Lilli zu befreien, bis 
          er schließlich versteht, wen er da eigentlich geliebt hat. Derweil 
          wird Dr. Farkas vom zum Baum verwandelten Pinocchio getötet. Schließlich 
          öffnet sich die Erde und verschluckt - wie in dem ungarischen Märchen 
          "Der Blumenpeter", ein weiteres Zitat der "Pinocchio-Papiere" 
          - Jonas. Als die Polizei mit Major Szluka an der Spitze am Ort des Geschehens 
          eintritt, finden sie nur noch Dr. Farkas mit geteiltem Schädel 
          und eine verwirrte, halbnackte, aber lebende Lilith.
 Doch was ist eigentlich geschehen? Wir wissen es nicht. Jonas, Pinocchio 
          und Varga werden von der Stille verschluckt. Jonas geht dabei sehenden 
          Auges, ohne Angst und ohne Worte in den Tod. Alles danach ist Schweigen.
 In starken Todesbildern konfrontiert uns Bringsværd in "Die 
          Pinocchio-Papiere" damit mit unseren eigenen Todesängsten. 
          Was kommt nach dem Tod? Was verbirgt sich hinter dem Nichts, hinter 
          der Leerstelle, die der Tod darstellt? Eine Antwort darauf geben die 
          "Pinocchio-Papiere" schlussgültig nicht, doch lassen 
          Vargas Gedanken und Jonas' angstfreier Übertritt in den Tod positive 
          Assoziationen zu.
 Wichtiger aber als die Antwort auf die Frage, was uns nach dem Tod erwartet, 
          ist die Darstellung, was passiert, wenn wir dieses Nichts, diese schwarze 
          Leere überwinden wollen. Dann nämlich begegnen wir - wie Rabbi 
          Löw, wie Faust, wie Frankenstein - dem Drachen in uns selbst. Es 
          ist gefährlich, diese Grenze zu Lebzeiten überschreiten zu 
          wollen. Genauso gefährlich ist es aber, das Unerklärliche 
          und Fantastische unserer Existenz rationalisieren und damit kontrollierbar 
          machen zu wollen. Auch bedarf die Kunst der kreativen Sprache, die zwischen 
          dem Realen und dem Imaginären wechseln kann, um nicht zu sterben. 
          Das entspricht einer ästhetischen Grundhaltung, die das Erlebnis 
          im Hier und Jetzt zum eigentlichen Ziel im Leben macht.
 Der reine - nicht dominierende - Krimiplot konzentriert sich auf die 
          Suche von Major Szluka nach Varga, seinem Mörder (denn der Kopf 
          wird später von der Donau an Land gespült) sowie schließlich 
          auch auf die Suche nach Jonas, der selbst unter Verdacht geraten ist. 
          Der "klassische", konventionelle Krimileser wird hier also 
          massiv enttäuscht.
 Wer sich aber auf dieses fantastische, sich den gängigen Lesegewohnheiten 
          widerstrebende, literarische Wissenschaftsabenteuer einlässt, den 
          erwartet ein poetischer Dokumentarroman, ein außergewöhnlicher 
          Märchen-Krimi über Mythologie, Forschung und Ethik. Wer jedoch 
          mit Märchen, Mythen, Legenden und sperrigen Texten nichts anzufangen 
          weiß und wer konventionelle Krimis bevorzugt, der lasse lieber 
          die Finger von den Pinocchio-Papieren. Er würde nicht glücklich 
          damit.
 Kaj 
        Berseth Nilsen. "Hver avreise er en gjenkomst". Bringsværds 
        Pinocchiopapirene og fantastikkens språk. Norsk Litterær Årbok 
        1985.
 
 Tor Åge Bringsværd: "Die Pinocchio-Papiere". Aus 
        dem Norwegischen von Roman Steinlin. 192 S., dreamis, 
        Zürich 2004. ISBN: 3-905473-02-X
 
 Vielen Dank an Alexandra Hagenguth/
 © November 2004 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien
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