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Das Rätsel Pinocchio
 Wo wurde er "geboren"?11Für gewöhnlich  wegen Collodi  verbindet man ihn 
          mit der Toskana, wo ihm auch eine Statue errichtet worden ist. Doch 
          was ist mit Korsika  wo die Natur selbst ein Andenken geschaffen 
          hat, eine Klippe bei Calanques, welche die genauen Gesichtszüge 
          Pinocchios wiedergibt? Wir wissen es nicht. Aber wir wollen davon ausgehen, 
          dass er in Italien geboren wurde  wenn er denn auch (wie aus seinem 
          eigenen Bericht hervorgehen wird) den grössten Teil seiner Jugend 
          und seines Erwachsenenlebens in Ungarn verbracht hat. Wie alt war er, 
          als er "geboren" wurde? Wir wissen es nicht. Doch wollen wir 
          hier Collodis Version folgen, welche andeutet, dass Pinocchio im schulpflichtigen 
          Alter "geboren" wurde, d.h. mit 6 Jahren. Pinocchio wird auf 
          die gleiche Weise in die Welt geworfen wie Adam, Kaspar Hauser und Frankensteins 
          Monster. Doch im Gegensatz zu jenen wirkt er überraschend gut vorbereitet. 
          Er kann zum Beispiel vom ersten Augenblick an fliessend Italienisch 
          sprechen ...
 Wann wurde er "geboren"? Wir wissen es nicht. Collodis Buch 
          kam 1883 heraus, doch die meisten Ereignisse müssen um einiges 
          früher stattgefunden haben. Wir liegen wohl nicht völlig falsch, 
          wenn wir auf ca. 1875 tippen. Wie wir sehen: Obwohl wir uns auf Pinocchios 
          eigenen Bericht stützen können, so gibt es doch manche unbeschriebenen 
          Punkte  manche Fragen auf die wir vielleicht niemals eine Antwort 
          bekommen werden. Einiges deutet darauf hin, dass Pinocchio sein ganzes 
          Leben hindurch auf ein langes, kontinuierliches autobiographisches Schauspiel 
          hinarbeitete. Als Kind war er ja eine Marionette, und die Liebe zum 
          Theater scheint ein Leben lang haften geblieben zu sein ...
 Es sind die Fragmente dieses umfangreichen theatralen Tagebuchs, welche 
          die Grundlage für die vorliegende Arbeit bilden. Zuallererst sollte 
          ich Rechenschaft darüber ablegen, woher ich Kenntnis von diesem 
          Tagebuch habe  und wie es dazu gekommen ist, dass einige Fragmente 
          daraus in meinen Händen gelandet sind.
 A fából faragott királyfi
 ( Der Holzprinz, oder eigentlich: Der aus Holz geschnitzte Prinz)
 Es geschah in Szeged. Ich sammelte Varianten des Märchens 
          vom Blumenpeter. Eines nachts klopfte es an meine Türe. Eine etwa 
          sechzigjährige Frau stand draussen, leichenblass und mit völlig 
          zerzaustem Haar. Als sie mich sah, brach sie in Tränen aus, und 
          ich musste ihr ins Haus hinein und in einen Stuhl helfen. Sie hatte 
          Angst und zitterte am ganzen Körper. Ihre Augen flatterten wie 
          Schmetterlinge. Ich wusste nicht so recht, was ich davon zu halten hatte. 
          Es war schon nach zwei Uhr nachts. Zwar hatte das Zimmer einen eigenen 
          Eingang, doch es war über Ibusz gemietet und ich wollte mir keinen 
          Ärger einfangen. Ich versuchte sie zu fragen, was sie wollte, aber 
          sie gluckste und stöhnte nur zur Antwort. Als ich sie fragte, ob 
          ich einen Arzt rufen sollte, da ergriff sie meinen Arm und klaubte mich 
          fest. Nach einer Weile dämmerte es mir dann, dass sie stumm war. 
          Ich gab ihr Block und Schreibzeug. Und sie schrieb, in holpriger Handschrift, 
          nur diese zwei Worte: der Holzprinz."Ich verstehe nicht, was Sie meinen."
 Bartók, schrieb sie.
 "Das Ballett, meinen Sie?"
 Sie nickte.
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   "Und was ist damit?"Ihre Hände tasteten sich wieder über das Papier: Ich bin seine 
          Tochter.
 "Von Béla Bartók?"
 Sie schüttelte den Kopf, deutete auf die ersten zwei Worte, und 
          klopfte auf die Phrase: der Holzprinz ...
 Wir schreiben das Jahr 1913. Bartók  missverstanden und 
          unterschätzt  ist gerade von einer Forschungsreise aus dem 
          algerischen Biskra zurückgekehrt. Folklore und Volksmusik stehen 
          jetzt im Zentrum seines Interesses. Der Opern-Einakter Ritter Blaubarts 
          Burg  die einzige Oper, die er jemals schreiben sollte  
          war für lange Zeit im In- und Ausland von allen, die sich für 
          kunstverständig hielten, als schlecht beurteilt worden  und 
          war noch nicht uraufgeführt. Zu seiner Freude und Überraschung 
          bestellt die Budapester Oper jetzt trotzdem ein neues musikalisch-dramatisches 
          Werk bei ihm  ein Ballett. Bartók kontaktiert seinen alten 
          Freund und Libretto-Verfasser, Béla Balázs, und jener 
          schlägt den Holzprinzen vor (Balázs Erzählung war zum 
          ersten Mal in der Weihnachtsnummer der literarischen Zeitschrift Nyugat 
          gedruckt worden, 1912). Bartók begeistert sich für die Idee 
          und arbeitet mit dem Ballett bis 1916. Sie wurde am 12. Mai 1917 zum 
          ersten Mal aufgeführt, in der Budapester Staatsoper. Egisto Tango 
          dirigierte (das Ballett ist auch ihm gewidmet) und Balázs führte 
          Regie. Die Musik lassen wir für diesmal beiseite, doch die Handlung 
          ist rasch erzählt: Eine Prinzessin tanzt sorglos in einer von einer 
          Fee geschaffen Märchenwelt umher. Ein Prinz stösst dazu, sieht 
          die Prinzessin und verliebt sich in sie. Die Fee befiehlt der Prinzessin, 
          sich ins Schloss zurückzuziehen. Der Prinz will ihr nachfolgen, 
          aber der zum Leben erwachte Wald versperrt ihm den Weg. Dem Prinzen 
          gelingt es, sich hindurchzukämpfen und die überwundenen Bäume 
          erstarren hinter ihm. Doch die Fee behindert ihn von neuem, und der 
          Bach vor ihm wird lebendig, erhebt sich in hohen Wellen und versperrt 
          ihm den Weg. Der Prinz lässt den Mut schon fast sinken, doch da 
          hat er eine Idee. Er fertigt aus seinem Wanderstab eine Holzpuppe an, 
          nimmt seinen königlichen Mantel ab, kleidet die Holzpuppe an und 
          schwingt sie in der Luft. Die Prinzessin, die anscheinend aus dem Abstand 
          das Ganze beobachtet hat, tut zuerst so, als ob nichts wäre. Der 
          Prinz nimmt seine Goldkrone ab, und setzt sie der Puppe auf. Und jetzt 
          bemerkt ihn die Prinzessin klar und deutlich, aber sie rührt sich 
          immer noch nicht. Der Prinz schneidet sich sein Haar ab und befestigt 
          es an der Puppe, und die Prinzessin beginnt wie hypnotisiert die Treppe 
          des Schlosses herabzusteigen  auf sie zu. Doch die Fee greift 
          ein. Sie erweckt die "Vogelscheuche" mit drei Berührungen 
          ihres Zauberstabs zum Leben. Und zum Entsetzen des Prinzen wählt 
          die Prinzessin anstatt seiner die Puppe! Sie umarmt sie verliebt und 
          tanzt hinfort mit ihr, ohne dem Prinzen Beachtung zu schenken, der daraufhin 
          verzweifelt zur Erde sinkt ...
 Jetzt kehrt die Fee zurück. Diesmal um zu trösten. Alles wird 
          lebendig und versammelt sich um den Schlafenden herum. Bäume, Wasser 
          und Blumen huldigen ihm, schenken ihm eine neue Krone, einen neuen Mantel 
          und neues Haar. Die Holzpuppe kommt torkelnd aus dem Schloss. Sie ist 
          völlig entmattet und kann sich kaum aufrecht halten, wird aber 
          immer noch von der Prinzessin umarmt. Doch plötzlich lässt 
          sie von ihr ab, beim Anblick des Prinzen  der jetzt schöner 
          ist als je zuvor  und bittet ihn, die Seine werden zu dürfen. 
          Aber der Prinz legt die Hand aufs Herz, schlägt ab und geht seiner 
          Wege. Jetzt ist es an der Prinzessin, ihm nachzufolgen. Doch der Wald 
          beginnt wieder lebendig zu werden und stellt sich ihr in den Weg. Verzweifelt 
          nimmt sie ihre Krone vom Kopf, schneidet sich das Haar ab und bricht 
          schluchzend zusammen. Der Prinz kommt zurück. Die Prinzessin versucht 
          zu fliehen, weil sie sich schämt ohne Haar und Schmuck zu sein, 
          aber der Prinz nimmt sie in seine Arme. Und im selben Augenblick kehren 
          die Landschaft und alle Dinge wieder zu ihrer ursprünglichen Form 
          und Position zurück. Was wusste ich zu der Zeit über den Libretto-Verfasser 
          Béla Balázs? Nur dass er tot war (Budapest, 17. Mai 1949), 
          dass er in seinen letzten Jahren Leiter des Instituts für Filmwissenschaft 
          in Budapest gewesen war, dass er früher u.a. Dozent für Filmwissenschaft 
          in Moskau gewesen war, dass er einer unserer bekanntesten (avantgardistischen) 
          Drehbuchschreiber war ...
  Aber vor allem: dass er in Szeged geboren wurde (4. 
          August 1884)  an jenem seltsamen Ort, an dem ich mich gerade befand. 
          Wo ich gerade  um zwei Uhr nachts  zusammen mit einer hysterischen 
          Frau sass, die mich mit allen Kräften zu überzeugen versuchte, 
          dass die Geschichte vom Holzprinzen viel mehr als nur ein Märchen 
          sei ...Danke an den dreamis Verlag Zürich für die Veröffentlichungserlaubnis.Sie nahm mich beim Arm. Wollte mich nach draussen führen. Ich folgte 
          ihr. Sie liess meinen Arm los und lief ein Stückchen vor mir her. 
          Wie sie so davonhinkte, mit ihrem schwarzen Kleid und dem schwarzen 
          Schal auf dem Kopf, erinnerte sie mich an einen angeschossenen Raben. 
          Die Strassen waren grau und kalt. Wir kamen allmählich aus dem 
          dichter besiedelten Gebiet heraus. Sie kletterte über einen Zaun 
          und ging über den Acker weiter, trampelte in einer schmutzigen 
          Pflugspur, fand einen höckrigen, mit Grasüberwachsenen Karrenweg 
          und folgte den Radabdrücken bis in den Wald hinein, an hohen und 
          schweren Bäumen vorbei, und hinein in Nebel und Schatten. Ab und 
          zu hielt sie an und wartete auf mich. Lächelte mir mit gelben Zähnen 
          zu und winkte mich heran. Ich verwünschte mich dafür, dass 
          ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Aber es war schon zu 
          spät um umzukehren. Die ganze Zeit über lief sie etwa zehn, 
          zwölf Meter vor mir her. Wir hatten die Karrenspur jetzt verlassen 
          und krabbelten eine Anhöhe hinauf, voller nasser Zweige und verottetem 
          Laub, wir glitten aus und strauchelten immer wieder. Gerade als wir 
          den Gipfel erreicht hatten, wich der Nebel zur Seite und legte den Blick 
          frei auf einen fahlen Mond, der dunkle Wolken über den Himmel jagte. 
          Hier wartete sie. Sie zeigte auf eine alte Eiche. Ich schüttelte 
          den Kopf, zum Zeichen, dass ich sie nicht verstand. Dass sie stumm war, 
          liess auch mich seltsamerweise nicht ein einziges Wort sagen. Sie war 
          sichtlich verärgert. Sie versuchte zu klettern, bedeutete mir, 
          dass sie dazu nicht imstande war, zeigte den Stamm hinauf und puffte 
          mich in den Rücken. Die ganze Zeit über sah sie sich um, wachsam 
          wie ein Tier. Sie bleckte die Zähne und knurrte. Als ob sie verfolgt 
          würde, als ob sie alle dunklen Mächte der Nacht verscheuchen 
          wollte. Ich kletterte. Als ich beim dritten Ast angekommen war, hörte 
          ich sie unter mir wimmern und stöhnen wie eine Besessene. Aus ihren 
          Handbewegungen, aus ihrer ganzen Gestalt heraus begriff ich, dass ich 
          mit der Hand in den Baum hinein  oder hinunter  greifen 
          sollte. Ich suchte nach der Ritze, die ja also irgendwo sein musste... 
          Und fand sie: einen kleinen Zwischenraum... Ich steckte die Hand hinein. 
          Und fischte einen kleinen eisernen Schrein heraus, rostig und verschmutzt. 
          Er war verschlossen. Ich winkte ihr mit dem Schrein zu. Und sie wich 
          zurück wie ein Zähne fletschender Wolf. Sie heulte, so dass 
          es die Toten hätte aufwecken können, und sie schoss los durchs 
          Gebüsch  als ob ich ihr den Leibhaftigen selbst gezeigt hätte. 
          Ich liess den Schrein zur Erde fallen und kletterte herunter. Sie war 
          fort. Verwirrt  und ich räume gerne ein: auch ein wenig ängstlich 
           kroch ich den Hang hinab und versuchte, den Weg zurück wieder 
          zu finden. Ein erneuter Schrei liess mich anhalten. Ich drehte mich 
          um. Sie war es. Nackt wie eine Hexe, dreckig und blutig geritzt von 
          den Zweigen wackelte sie aus dem Schatten hervor. Sie sah mich nicht. 
          Ging wie in Trance. Ihr nackter Körper würde von Krämpfen 
          geschüttelt. Sie hielt die Hände über den Kopf, als ob 
          sie durch einen Fluss waten würde. Und ihre Stimme die Laute, 
          welche hervorsprudelten und sich in Gestöhne und Geschrei entluden... 
          Sie stellte sich vor einen Baum, presste sich an ihn, schlang ihre Arme 
          um ihn, rieb sich am Stamm. Ihm fahlen Mondlicht fühlte ich mich, 
          als ob ich Zeuge der schwärzesten aller Messen wäre. Ich riss 
          mich los  und lief. Ich lief wie ein Hund, der einen Hasen verfolgt. 
          Ich lief solange, bis ich den Geschmack von Blut verspürte, aber 
          ich merkte, dass der Wald zu weichen begann, dass ich wieder auf dem 
          Feld draussen war, dass ich wieder bei den Menschen war...
 Ich konnte den Schrein mit einem Messer aufbrechen. Und ich konnte nicht 
          glauben, was ich da für den Rest der Nacht zu lesen bekam... Ob 
          ich sie wiedergefunden habe? In der ganzen Verwirrung kam ich natürlich 
          nicht dazu, sie nach Namen und Adresse zu fragen. Und Szeged ist trotz 
          allem eine Stadt mit 162 000 Einwohnern ...
 Aber ich sollte ihr doch noch einmal begegnen. Etwas über dieses 
          Treffen  und eine detailliertere Analyse des Holzprinzen  
          findet sich im Abschnitt 53. An dieser Stelle begnüge ich mich 
          mit der Feststellung, dass mich meine Untersuchungen zur Überzeugung 
          gebracht haben, dass der Holzprinz zweifelsohne auf einer wahren Begebenheit 
          basiert. Zwei Männer lieben dieselbe Frau. Der Holzprinz ist die 
          Version, welche uns der "Verlierer" von der Begebenheit gibt. 
          Eine  nur allzu verständlich  verdrehte und eifersüchtige 
          Version, soweit ich es beurteilen kann, und mit einem Schluss, der mehr 
          von einem Wunschtraum, denn von einem Bericht hat. Es sind keine oder 
          nur wenige Namen bekannt. Wir wissen nicht, ob Balázs selber 
          die Rolle des "Prinzen" innehatte. Wahrscheinlich nicht. Wir 
          wissen auch nicht, wer die "Prinzessin" war. Jedoch den "aus 
          Holz geschnitzten Prinzen" kennen wir... Er muss zu dieser Zeit 
          ende Dreissig gewesen sein. Auch seine Tochter kennen wir. Ich glaube 
          ja, sie höchstpersönlich getroffen zu haben. Für alle 
          anderen war sie eine Verrückte. Ein Körper in einem Bett, 
          auf einem Stuhl, der zu bestimmten Zeiten gefüttert und gewaschen 
          wurde. Und sonst sich selber überlassen. Alleine. Als ich sie wiedergefunden 
          hatte, kannte sie mich nicht mehr. Ihre Augen waren leer wie Glasperlen. 
          Niemand konnte sich mit ihr verständigen. "Sie ist schon immer 
          so gewesen", sagten diejenigen, die sie pflegten. "Ein angeborener 
          Fehler. Es gibt nichts, was wir tun könnten."
 Warum ich? hätte ich sie fragen wollen. Warum gerade ich?
 "Hat sie denn keine Verwandten, die sich um sie kümmern könnten?"
 "Nein."
 Doch ich wusste es besser. Und der Herrgott allein mag wissen, was in 
          ihrem Kopf vorgeht ...
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