|  Leseprobe
Wir wohnen im Weißen Schnitt.Auf einem Grundstück, das man der Wohnungsbaugesellschaft geschenkt 
        hat, hat sie ein paar vorfabrizierte Schachteln aus weißem Beton 
        aufeinandergestapelt, für die sie vom Verein zur Verschönerung 
        der Hauptstadt eine Prämie erhalten hat.
 Das Ganze, einschließlich Prämie, macht einen billigen und 
        notdürftigen Eindruck; die Mieten allerdings haben nichts Kleinliches, 
        sie sind so hoch, daß hier nur Leute wohnen können wie Juliane, 
        für die der Staat aufkommt, oder wie der Mechaniker, der nehmen mußte, 
        was er kriegen konnte, oder die eher marginalen Existenzen wie zum Beispiel 
        ich.
 Die Leute haben offenbar sehr gut begriffen, was Leukotomie ist. So ist 
        der Spitzname für uns, die hier wohnen; das ist zwar verletzend, 
        im großen und ganzen aber korrekt. Es gibt Gründe dafür, 
        hier einzuziehen, und Gründe, hier auch wohnen zu bleiben. Mit der 
        Zeit ist das Wasser für mich wichtig geworden. Der Weiße Schnitt 
        liegt direkt am Kopenhagener Hafen. In diesem Winter konnte ich sehen, 
        wie sich das Eis bildete. Der Frost setzte im November ein. Ich habe Respekt 
        vor dem dänischen Winter. Die Kälte - nicht die meßbare, 
        die auf dem Thermometer, sondern die erlebte - hängt mehr von der 
        Windstärke und vom Feuchtigkeitsgrad der Luft ab als davon, wie kalt 
        es ist. Ich habe in Dänemark mehr gefroren als je in Thule. Sobald 
        die ersten klammen Regenschauer mir und dem November ein nasses Handtuch 
        ins Gesicht peitschen, begegne ich ihnen mit pelzgefütterten Capucines, 
        schwarzen Alpakaleggings, langem Schottenrock, Pullover und einem Cape 
        aus schwarzem Goretex.
 Dann fällt die Temperatur allmählich. Irgendwann hat die Meeresoberfläche 
        minus 1,8 Grad Celsius, die ersten Kristalle bilden sich, eine kurzlebige 
        Haut, die der Wind und die Wellen
 zu frazil Eis zerschlagen, das zu dem seifigen Mus verknetet wird, das 
        man Breieis, grease ice, nennt; es bildet allmählich freitreibende 
        Platten, pancake ice, das dann an einem Sonntag in einer kalten Mittagsstunde 
        zu einer zusammenhängenden Schicht gefriert.
 Es wird kälter, und ich freue mich, denn ich weiß, daß 
        der Frost jetzt zugelegt hat, das Eis bleibt liegen, und die Kristalle 
        haben Brücken gebildet und das Salzwasser in Hohlräumen eingekapselt, 
        die eine Struktur haben wie die Adern eines Baumes, durch die langsam 
        die Flüssigkeit hindurchsickert; daran denkt kaum jemand, der zur 
        Marineinsel Holmen hinüberschaut, es ist aber ein Argument für 
        die Ansicht, daß Eis und Leben auf mehrfache Weise zusammenhängen.
 Wenn ich auf die Knippelsbrücke komme, ist das Eis normalerweise 
        das erste, wonach ich Ausschau halte. An diesem Tag im Dezember aber sehe 
        ich etwas anderes. Ich sehe das Licht.
 Es ist gelb, wie das meiste Licht in einer Winterstadt; es hat geschneit, 
        und deshalb hat es, auch wenn es nur ein zartes Licht ist, einen starken 
        Widerschein. Es scheint unten bei einem der Packhäuser, den Speichern, 
        die sie, als sie unsere Wohnblocks bauten, in einem schwachen Moment beschlossen 
        haben stehenzulassen. Auf der Giebelseite, zur Strandgade und nach Christianshavn 
        zu, rotiert das Blaulicht eines Streifenwagens. Ich sehe einen Polizisten. 
        Die provisorische Absperrung aus weiß-roten Plastikbändern. 
        Das, was dort abgesperrt ist, kann ich als kleinen dunklen Schatten auf 
        dem Schnee ausmachen.Weil ich renne und es erst gut fünf Uhr und der Nachmittagsverkehr 
        noch nicht vorbei ist, schaffe ich es, einige Minuten vor dem Krankenwagen 
        dort zu sein.
 Jesaja liegt mit angezogenen Beinen da, das Gesicht im Schnee und die 
        Hände um den Kopf, als wollte er sich gegen den kleinen Scheinwerfer, 
        der ihn beleuchtet, abschirmen, als sei der Schnee ein Fenster, durch 
        das er tief unter der Erde etwas gesehen hat.
 Der Polizist müßte mich sicher fragen, wer ich bin, meinen 
        Namen und meine Adresse aufnehmen und überhaupt die Arbeit der Kollegen 
        vorbereiten, die jetzt bald von Haus zu Haus gehen und klingeln müssen. 
        Aber er ist ein junger Mann mit einem kranken Ausdruck in den Augen. Er 
        vermeidet es, Jesaja direkt anzuschauen. Als er sich vergewissert hat, 
        daß ich sein Absperrband nicht übertrete, läßt er 
        mich stehen.
 Er hätte ein größeres Stück absperren können. 
        Doch das hätte keinen Unterschied gemacht. Die Packhäuser werden 
        teilweise umgebaut. Menschen und Maschinen haben den Schnee hartgetrampelt 
        wie einen Terrazzoboden.
 Selbst im Tod hat Jesaja etwas Abgewandtes, als wollte er von Mitleid 
        nichts wissen.
 Hoch oben, außerhalb des Scheinwerferlichts, ahnt man einen Dachfirst. 
        Das Packhaus ist hoch, sicher so hoch wie ein sieben- oder achtstöckiges 
        Wohnhaus. Das angrenzende Haus wird umgebaut. An der Giebelseite, die 
        auf die Strandgade hinausgeht, steht ein Gerüst. Dort gehe ich hin, 
        während sich der Krankenwagen über die Brücke arbeitet 
        und dann zwischen den Gebäuden durchwindet.
 Das Gerüst deckt die Giebelseite bis zum Dach hinauf ein. Die untere 
        Leiter ist heruntergeklappt. Die Konstruktion scheint immer zerbrechlicher 
        zu werden, je höher man kommt.
 Sie bauen ein neues Dach. Über mir türmen sich die dreieckigen 
        Dachsparren. Sie sind mit einer Persenning zugedeckt, die über die 
        halbe Gebäudelänge reicht. Die andere Hälfte, auf der Hafenseite, 
        ist eine verschneite Fläche. Darauf sind die Spuren von Jesaja.
 An der Schneekante hockt ein Mann, der seine Knie umklammert hält 
        und sich hin und her wiegt. Selbst zusammengekauert wirkt der Mechaniker 
        noch groß, und noch in dieser Haltung totaler Resignation wirkt 
        er zurückhaltend.
 Es ist so hell. Vor einigen Jahren hat man das Licht bei Siorapaluk gemessen. 
        Von Dezember bis Februar, drei Monate, in denen die Sonne weg ist. Man 
        stellt sich immer eine ewige Nacht vor, aber es sind Mond und Sterne da, 
        und ab und zu das Nordlicht. Und der Schnee. Man registrierte dieselbe 
        Anzahl Lux wie außerhalb von Skanderborg in Jütland. Genau 
        so erinnere ich meine Kindheit. Daß wir immer draußen spielten, 
        und daß es immer hell war. Damals war das Licht eine Selbstverständlichkeit. 
        So viele Dinge sind für ein Kind selbstverständlich. Mit der 
        Zeit fängt man dann an, sich zu wundern. Jedenfalls fällt mir 
        auf, wie hell das Dach vor mir ist. Als sei es die ganze Zeit über 
        der in einer vielleicht zehn Zentimeter dicken Schicht liegende Schnee 
        gewesen, der das Licht dieses Wintertages geschaffen hat, und als glühe 
        es in punktweisem Glitzern wie kleine, graue, leuchtende Perlen immer 
        noch nach. Am Boden schmilzt der Schnee ein bißchen, selbst bei 
        schwerem Frost, wegen der Wärme der Stadt. Hier oben jedoch liegt 
        er locker, so wie er gefallen ist. Nur Jesaja hat ihn betreten.
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Selbst wenn keine Wärme da ist, kein neuer Schnee, kein Wind, selbst 
          dann verändert sich der Schnee. Als würde er atmen, als würde 
          er sich verdichten, sich heben und senken und sich zersetzen.Danke an den Lübbe Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Jesaja hat Turnschuhe getragen, auch im Winter, und es ist seine Spur, 
          die abgetretene Sohle seiner Basketballstiefel mit der gerade noch sichtbaren 
          Zeichnung konzentrischer Kreise unter der Wölbung der Fußsohle, 
          um die sich der Spieler drehen muß. Er ist dort, wo wir stehen, 
          in den Schnee hinausgetreten. Die Spuren laufen schräg auf die Dachkante 
          zu und führen daran entlang weiter, vielleicht zehn Meter. Dann halten 
          sie an. Um sich dann zur Ecke und zur Giebelseite hin fortzusetzen. Wo 
          sie der Dachkante in einem Abstand von ungefähr einem halben Meter 
          bis an die Ecke zum angrenzenden Packhaus hin folgen. Von dort aus ist 
          er vielleicht drei Meter zur Mitte zurückgelaufen, um Anlauf zu nehmen. 
          Dann führt die Spur direkt zur Kante, wo er gesprungen ist.
 Das andere Dach besteht aus glasierten schwarzen Ziegeln, die zur Dachrinne 
          hin in so steilem Winkel abfallen, daß der Schnee nicht liegengeblieben 
          ist. Es gab nichts zum Festhalten. So gesehen hätte er ebensogut 
          direkt in den leeren Raum springen können. Außer Jesajas Spuren 
          gibt es keine anderen. Auf der Schneefläche ist außer ihm niemand 
          gewesen.
 "Ich habe ihn gefunden", stellt der Mechaniker fest.
 Es wird für mich nie leicht sein, Männer weinen zu sehen. Vielleicht, 
          weil ich weiß, wie fatal das Weinen für ihre Selbstachtung 
          ist. Vielleicht, weil es für sie so ungewohnt ist, daß es sie 
          immer in ihre Kindheit zurückverfrachtet. Der Mechaniker ist in dem 
          Stadium, wo er es aufgegeben hat, sich die Augen zu trocknen, sein Gesicht 
          ist eine Maske aus Schleim.
 "Putz dir die Nase", sage ich. "Es kommen Leute."
 Die beiden Männer, die aufs Dach kommen, sind über unseren Anblick 
          nicht sonderlich erfreut.
 Der eine schleppt die Fotoausrüstung und ist außer Atem. Der 
          andere erinnert ein wenig an einen verwachsenen Nagel. Flach und hart 
          und voll ungeduldiger Gereiztheit.
 "Wer sind Sie?"
 "Die Nachbarin von oben", sage ich. "Und der Herr ist der 
          Mann von unten."
 "Gehen Sie bitte runter."
 Dann sieht er die Spuren und ignoriert uns.
 Der Fotograf macht die ersten Bilder, mit Blitz und einer großen 
          Polaroidkamera.
 "Nur die Spuren des Verstorbenen", sagt der Nagel. Er redet, 
          als fertige er im Kopf bereits seinen Bericht an. "Die Mutter betrunken. 
          Da hat er halt hier oben gespielt."
 Dann fällt sein Blick erneut auf uns.
 "Gehen Sie jetzt bitte runter."
 Zu diesem Zeitpunkt sehe ich nichts klar, es geht alles durcheinander. 
          Das allerdings so sehr, daß ich davon abgeben kann. Ich bleibe also 
          stehen.
 "Komische Art zu spielen, nicht wahr?"
 Manche Leute meinen vielleicht, ich sei eitel. Das will ich eigentlich 
          nicht abstreiten. Ich kann ja auch Gründe dafür haben. Jedenfalls 
          ist es meine Kleidung, die ihn jetzt zuhören läßt. Der 
          Kaschmir, die Pelzmütze, die Handschuhe. Er hat zwar Lust und auch 
          das Recht, mich hinunterzuschicken. Aber er sieht, daß ich aussehe 
          wie eine Dame. Auf den Dächern von Kopenhagen begegnet man nicht 
          so vielen Damen.
 Einen Augenblick lang zögert er also.
 "Wieso?"
 "Als Sie in dem Alter waren", sage ich, "und Vater und 
          Mutter noch nicht aus dem Kohlenbergwerk zurück waren und Sie allein 
          auf dem Dach der Obdachlosenbaracke gespielt haben, sind Sie da in gerader 
          Linie die Dachkante entlanggelaufen ?"
 Daran kaut er ein wenig.
 "Ich bin in Jütland aufgewachsen", sagt er dann. Doch sein 
          Blick läßt mich nicht los, während er das sagt.
 Dann dreht er sich zu seinem Kollegen um.
 "Wir brauchen Lampen hier oben. Und wenn du gleich noch die Dame 
          und den Herrn runterbringen würdest."
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