Grenzenloser Hass
          Als Truman Capote 1965 sein Buch "In Cold Blood" veröffentlichte, 
          den er im Untertitel "Wahrheitsgemäßer Bericht über 
          einen mehrfachen Mord und seine Folgen" nannte, schuf das einstige 
          Wunderkind der amerikanischen Literatur damit einen Welterfolg. Er nannte 
          seinen Roman einen "nichterfundenen Roman" (
nonfiction 
          novel). "Es ist eine eigenartige Mischform, sagte er darüber, 
          "ich glaube, es ist eine große, unerforschte Kunstgattung. 
          Kritiker stritten darüber, ob er tatsächlich eine neue Gattung 
          eingeleitet hat oder ob es sich hier um einen "
auf sein spezifisches 
          Talent zugeschnittenen Sonderfall, der sich nicht beliebig wiederholen 
          läßt", handelt, wie es der Kritiker G. Blöcker 
          einmal ausdrückte.
          
          Inzwischen haben die Nonfiction Novels und darunter auch die sogenannten 
          True Crimes eine breite Leserschaft gewonnen. Es gibt kaum ein aufsehenerregendes 
          Verbrechen, dem nicht bald ein Buch folgt. Nun hat der "Militzke-Verlag 
          ein Buch des schwedischen Journalisten Gellert Tamas veröffentlicht. 
          Es ist die Geschichte des schwedischen Einwandererkindes John Ausonius, 
          der Im Winter 1991/1992 ganz Stockholm in Angst und Schrecken versetzte. 
          Dieser "nicht imaginäre Roman" ist die Geschichte über 
          das Leben und den Tod von Menschen. Zehn Menschen, alles Einwanderer 
          mit dunkler Hautfarbe werden verletzt, einige davon schwer. Ein Mensch 
          wird getötet. Und es ist die Geschichte des Täters, John Ausonius, 
          ein Kind von Einwanderern, einer Deutschen und eines Schweizers. Ausonius, 
          der eigentlich als Wolfgang Alexander John Zaugg geboren wurde, hatte 
          eine Vergangenheit mit Höhen und Tiefen. Wurde als Kind wegen seiner 
          schwarzen Haare gehänselt, besuchte dann die Deutsche Schule in 
          Stockholm, eine Eliteschule, brach die Schule ab, schlug sich als Filmvorführer 
          und Gelegenheitsarbeiter durch, schrieb sich an der Technischen Universität 
          ein, wurde reich im Optionshandel und verlor auch alles wieder an der 
          Börse. Um seinen Lebensstandard zu halten, verübte er zehn 
          Banküberfälle. Und verspielte alles beim Roulette.
          
          "
Ich drückte ab und fühlte, dass ich einen Schritt 
          zu weit gegangen war, dass ich ein schlechter Mensch war, das...ich 
          weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich hatte ganz einfach 
          einen Schritt in die falsche Richtung gemacht."
          
          Und es ist eine Geschichte über Schweden, über Rassenhaß 
          und Politik. Beschrieben wird der Aufstieg der rechtspopulistischen 
          Partei "Ny demokrati" und ihren Zerfall. Die Partei verstand 
          sich darauf, Strömungen in der Gesellschaft zu erkennen. Viele 
          waren in Angst wegen der Rezession, die Schweden mit ganzer Kraft getroffen 
          hatte. Die Sozialdemokratie schien nicht mehr über die selbstverständlichen 
          Antworten zu verfügen. Viele waren gewillt, auf jemanden zu hören, 
          der einfache Lösungen für komplizierte Probleme versprach. 
          Im Dunstkreis dieser politischen Stimmungen wird die Entwicklung des 
          Rechtsradikalismuses in Schweden aufgezeigt.
          
          
          Minuziös, mit klinischer Exaktheit wird das düstere und blutige 
          Ereignis in seine einzelnen Phasen zerlegt, analysiert und rekonstruiert. 
          Der Bericht ist von strenger Genauigkeit, er baut sich allein auf Begebenheiten 
          und Dialogen auf. Das Buch stützt sich auf reichhaltiges Quellenmaterial, 
          darunter auch Gespräche mit dem Täter, die allein 700 Seiten 
          umfassen. Man spürt, das protokollhafte, was auch daran liegen 
          kann, das die Kapitelüberschriften mit Datum versehen sind. Nichts 
          scheint Erfindung zu sein, alles ist belegt, was man den Anmerkungen 
          am Schluß des Buches entnehmen kann. Das Ergebnis könnte 
          also genau so einfach sein wie ein langer Polizeibericht. Aber indem 
          er die Lebensgeschichte des Täters dieser Tragödie erforscht, 
          die glückliche oder dramatische Kindheit schildert, seine Ängste, 
          seine Träume und Sehnsüchte, seine Hassgefühle, seine 
          Komplexe, die Scheidung der Eltern, die Schläge der überforderten 
          Mutter, deren wechselnden Männerbekanntschaften, seine latente 
          Homosexualität und daraus folgende Kontaktscheue - sein tägliches 
          Leben also, verwandelt sich dieser Bericht in den gelungenen Versuch 
          einer psychologischen und psychiatrischen Erklärung. Auch die undifferenzierten 
          Menschen sind nicht einfach. Jeder von ihnen hat die Spannweite der 
          - erfundenen - Gestalten, die die Literatur bevölkern. Der Autor 
          entschuldigt nicht, er klagt nicht an, er richtet nicht. Er ist ein 
          genialer Untersucher, peinlich genau, geduldig und menschlich. Nur ab 
          und zu schimmert durch, auf welcher Seite seine Sympathien liegen. Nicht 
          ohne das Gespür für den Humor, wenn auch manchmal tragischen, 
          der in manchen Situationen liegt. Ihm ist es zu danken, dass aus diesem 
          Ereignis ein Meisterwerk wurde: Eine Geschichte über einen Menschen, 
          der an sich zerbricht und über eine Gesellschaft, die Gefahr läuft, 
          ebenso zu zerbrechen.
          
          Die Tage, Wochen und Monate, die dem Schrecken jenes Freitags im August 
          1991 folgen, als der erste Anschlag verübt wurde, werden von Gellert 
          Tamas peinlich genau geschildert. Die panische Furcht, die sich der 
          Nachbarn und der Freunde der Opfer bemächtigte, den Verdacht, das 
          Misstrauen, das Gefühl der Einwanderer Freiwild zu sein, den Umgang 
          mit den Opfern durch die Behörden, die Presse und die Polizei. 
          Die Familien, die sich beim Anbruch der Nacht hinter verschlossenen 
          Türen verbergen, die Nachts nicht mehr allein ausgehen oder nur 
          noch in Begleitung.
          
          Erst nach dem dritten Anschlag beginnen die Ermittler im Gewaltdezernat 
          an einen Zusammenhang zu glauben. Die Morde führten zu Schwedens 
          zweitgrößter Polizeiaktion direkt nach der des Mordes an 
          Olof Palme 1986. Zeitweise arbeiten fast 50 Polizisten in Stockholm 
          an dem Fall, weitere 10 an dem Mordversuch in Uppsala. Zu dieser Zeit 
          kam es auch zu Bombenanschlägen in Stockholm, Anschläge auf 
          Asylantenheime, so dass zeitweise hunderte von Polizisten an diesen 
          Fällen mit rechtsradikalem Hintergrund ermittelten. Und gleichzeitig 
          wurde, zum ersten Mal in der schwedischen Kriminalgeschichte, bei der 
          Jagd auf einen Mörder ein Täterprofil erstellt. Die Spannung, 
          die Gellert Tamas hervorruft, ist vollkommen, obwohl der Leser von Anfang 
          an weiß, wer der Täter ist und was seine Motive sind. Der 
          Leser weiß was geschehen ist, warum und wie.
          
          
            
            
              | Buchtipp | 
            
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          Es ist ein Bericht über die "Reise ans Ende der Nacht" 
          von John Ausonius. Dies ist wahrhaftig eine Reise ans Ende der Nacht, 
          aber eine wirklich erlebte. Sie basiert auf einer Reihe von tatsächlichen 
          Ereignissen, die aus schriftlichen und mündlichen Quellen rekonstruiert 
          wurden, wie der Autor in seinen Anmerkungen schreibt. Psychologischer 
          Bericht, Kriminalroman, Abenteuer, unerträgliche Politiker, alles 
          findet der Leser hier vereint. Ja sogar komische, tragisch komische 
          Episoden. Wir lernen den Mensch, den Verbrecher kennen: seine dramatische 
          Kindheit, seine jugendlichen Ambitionen, seine Indifferenz gegenüber 
          dem brutalen Mord, den weiteren Opfern, sein harmloses Auftreten, seine 
          geheimsten Gedanken, seine Sicherheit, straflos auszugehen, das Fehlen 
          jeglichen Reuegefühls
          
          "
Ich rechtfertigte die Anschläge damit, dass es Einwanderer 
          waren, dass es politisch falsch war, sie hereinzulassen. Hätte 
          ich Schweden erschossen, dann hätten alle versucht, mich zu schnappen. 
          Alle! Schweden und Einwanderer! Niemand mag jemanden, der herumgeht 
          und schießt. Ich wandte mich ja gegen die Einwanderer, weil es 
          so viele gab, die sie nicht leiden konnten...vielleicht zwanzig, dreißig 
          Prozent dachten ja wie ich, dass es zu viele Einwanderer in Schweden 
          gab. Und es machte ihnen wenig, überhaupt nichts oder auf alle 
          Fälle weniger aus, weil ich auf Einwanderer schoss. Ein Teil war 
          sogar dafür."
          
          Nun kann man sicherlich darüber streiten, wie das Erstarken der 
          rechtsradikalen Parteien in Schweden Ausonius dazu brachte, seine Taten 
          zu begehen. Oder ob er die vorhandene Stimmung gegen die Einwanderer 
          in seinen verquertem Denken als Entschuldigung für sich adaptierte. 
          Dieser Punkt, die von ihm gezogenen Parallelen zwischen dem Aufstieg 
          der rechtspopulistischen Parteien in Schweden mit der Gesellschaft sowie 
          der rassistischen Bewegungen, den Anschlägen auf Einwanderer mit 
          deren Verbindungen zu Ausonius, wurde kritisiert. Einigemal kommt auch 
          der Mord an Olof Palme vor. So war zum Beispiel Ausonius auch im Dunstkreis 
          der Verdächtigten am Mord. Aber zu diesem Zeitpunkt war er wegen 
          anderer Vergehen im Gefängnis, so dass er für den Mord nicht 
          in Frage kam. Aber wenn man dieses Buch gelesen hat, so kann man nicht 
          umhin, dieser These von Tamas, zum großen Teil zuzustimmen. Bedenklich 
          stimmt auch seine Kritik an den Medien, die diese Stimmung durch ihre 
          Berichterstattung noch aufheizten und an den bürgerlichen und sozialdemokratischen 
          Parteien, die zuerst nicht wissen, wie sie mit den Rechtsparteien umgehen 
          sollten und dann unbewußt oder bewußt dazu übergingen, 
          ihnen nach dem Mund zu reden und Teile ihrer Forderungen zu übernehmen. 
          Aus Angst, politischen Einfluß zu verlieren. Die Menschen, die 
          Einwanderer blieben dadurch allein. Erstaunlich auch, wie sich Parallelen 
          zu der Situation in Deutschland in der jüngsten Vergangenheit ergeben. 
          Auch hier ein Anwachsen rechtspopulistischer Parteien, mit einem Versagen 
          der bürgerlichen Parteien, der Medien, die meinen, auf diesen Zug 
          auch noch aufspringen zu müssen, um die Macht zu erhalten.
          
          
"Außerdem war ich ja nicht der Einzige, der sie nicht 
          ausstehen konnte. Es gab viele Schweden, die Einwanderer nicht mochten. 
          Es gab ja auch eine gewisse politische Unterstützung. Neue Demokratie 
          bekam ja massenhaft Stimmen. Deren Einwanderungspolitik war richtig. 
          Die von neue Demokratie sagten frei heraus, dass sie die Einwanderer 
          aus dem Land werfen wollten. Aber nicht aus rassistischen, sondern aus 
          wirtschaftlichen Gründen. Es wurde ganz einfach zu teuer. Außerdem 
          wirkten sich die kulturellen Unterschiede immer stärker aus. Ich 
          teilte deren Ansichten. Ich habe sie gewählt."
          
          Solange solche Bücher geschrieben werden, kann die Frage, ob die 
          "Nonfiction Novel" eine eigene Kunstgattung ist, nur mit ja 
          beantwortet werden. Und es bleibt zu konstatieren, dass "Cold Blood" 
          von Truman Capote kein Sonderfall ist. Er hat hier einen würdigen 
          Nachfolger gefunden.
        
Vielen Dank an Jürgen Ruckh aus Esslingen
        © März 2007 Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien