 Leseprobe
 Leseprobe
        HOTEL LIBRA
BRÜSSEL, 15. FEBRUAR 1997
        
        Ich  denke über meine Worte nach. Ich habe dem Schicksal oder dem Zufall nie viel Beachtung  geschenkt, sondern mich stets an die Gesetze und Vorschriften gehalten, die von  der Wissenschaft vorgegeben sind. Alles, was passiert ist, werde ich berichten,  aber ich muss verhindern, dass es so aussieht, als handle es sich um eine  Aneinanderreihung zufälliger Ereignisse. Die Wahrheit ist, dass jedes noch so  kleine Detail in dem ursprünglichen Plan seinen festen Platz besitzt.
  Meine  Geschichte steckt voller Widersprüche. Sie enthält genauso viel  Unvorhergesehenes wie Abweichungen von der Norm. Niemand kann ihren  Wahrheitsgehalt bezeugen, und jeder könnte die ganze Sache als ein Produkt  überspannter Phantasie oder ein Anzeichen nervöser Schizophrenie abtun. Doch  glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass alles – vom Anfang bis zum Ende –  eng miteinander verbunden ist und zu einem von strengsten Gesetzen diktierten  System gehört, ja dass die Zufälligkeit und Normalität des Gegenstands nur der  Schein sind, hinter dem sich seine Essenz beharrlich versteckt. Das Problem  besteht nicht darin, die Fallen zu durchschauen. Es geht vielmehr darum, in dem  Plan seinen vorgeschriebenen Platz zu finden. Ein einziger Fehler, und das  Spiel ist aus.
  
  Viele  Menschen würden es ein tragisches Unglück und ein großes Missgeschick nennen,  dass Vincents Körper unter dem Küchentisch liegt und langsam erkaltet, anstatt  die Laken unseres gemeinsamen Bettes zu wärmen. Ein Verhältnis kann aber auf  viele Arten und Weisen enden, und der Tod ist vermutlich nicht immer der  schlechteste Ausgang. In unserem Fall war er die bessere Lösung. Obwohl unsere  Trennung etwas abrupt inszeniert war, so dass wir uns nicht einmal mehr  »Lebewohl« sagen konnten, bin ich davon überzeugt, dass sich die Angelegenheit  in einem annehmbaren Rahmen bewegt.
  Ich  bin mir sicher, dass sein schnelles Ableben nicht ins Protokoll aufgenommen  werden wird. Das ist es auch gar nicht, was mir Sorgen bereitet. Was mich  momentan beunruhigt, ist meine Studie. Diese langwierige Untersuchung, die  mehrere tausend Bogen Papier in abgewetzten Aktenordnern umfasst und mich jeden  Morgen zwingt, mir wieder und wieder die Frage zu stellen, ob mein Werk  vollendet ist oder nicht. Das Fehlen einer Antwort treibt mich dazu, mir die  Fingernägel bis aufs Nagelbett herunterzukauen und mich zitternd vor dem zu  fürchten, was kommt.
  Bei  dem Gedanken an meine Untersuchung fällt mir mein Vater ein. Mein Vater hielt  sich für einen der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit, und er widmete  sein Leben dem Studium von Uhren und weniger bekannter Instrumente zur  Zeitmessung. Er sprach nur ungern über das Ziel und den Zweck seiner  Abhandlungen, ließ aber keine Gelegenheit aus, um mit Nachdruck darauf  hinzuweisen, dass eine Arbeit keinen Wert habe, solange sie nicht ganz  abgeschlossen sei. Als Kind erschien mir diese Fixierung auf den Zeitpunkt der Fertigstellung  ein wenig überspannt. Meine eigenen Erfahrungen in puncto Beschäftigung  beschränkten sich auf zwei Kategorien: auf die lustigen und auf die  unerträglich langweiligen. Sich freiwillig mit langweiligen Angelegenheiten zu  befassen kam mir damals ebenso absurd vor wie das Verlangen danach, lustige  Dinge abzuschließen. »Warum hast du es so eilig, fertig zu werden?«, fragte ich  manchmal, wenn das Kratzen mit dem Gänsekiel den baldigen Abschluss einer  Arbeit ankündigte. »Zu wissen, wann es an der Zeit ist, Schluss zu machen, ist  die größte Herausforderung an einen Wissenschaftler«, antwortete mein Vater  dann. Der tiefere Sinn dieser Worte wurde mir erst viel später klar. Mein Vater  selbst schien seine eigene Kunst nicht ausreichend zu beherrschen, denn seine  rätselhafte Studie zog sich in die Länge. Über die letzten Korrekturseiten  gebeugt, ganz darauf bedacht, seine Studie abzuschließen, auch wenn es das  Letzte wäre, was er täte, starb er mit der Feder in der Hand.
  Vor  einigen Tagen entschied ich, meine Studie als vollendet zu betrachten, schon  allein, um nicht in die gleiche missliche Lage zu geraten wie mein Vater. Ich  bin jetzt eine alte Frau und nicht mehr imstande, etwas Neues anzufangen.  Zugegeben, der Gedanke, mit meiner Arbeit keinen Erfolg zu haben, lähmt mich.  Das Risiko, mit einem Vorhaben zu scheitern und aus der Bahn geworfen zu  werden, besteht in jedem Moment. Deshalb sind die Worte meines Vaters Gold  wert. Der Augenblick ist gekommen, an dem man erkennen muss, dass es Zeit ist,  Schluss zu machen, Zeit, die Sache aufzustecken. Als mir allmählich klar wurde,  dass meine Nachforschungen kurz davor standen, den vorgegebenen Rahmen zu  sprengen, beschloss ich, das Projekt abzubrechen und dem Ganzen ein Ende zu  machen.
»Jetzt  ist es aber genug«, sagte ich zu Vincent, der natürlich nicht das Geringste  begriff, sondern glaubte, es ginge um die Einschränkung seiner extremen  Naschgewohnheiten. Er schien nicht geahnt zu haben, was für eine Enttäuschung  er im Laufe der letzten fünfzehn Jahre für mich gewesen ist, genauso wenig  spürte er offensichtlich meinen Ekel über seine perversen Gewohnheiten und  seinen degenerierten Lebenswandel. Ich empfand die gleiche Enttäuschung wie ein  Zoologe, der entdeckt, dass sein Versuchstier ein missgebildeter Hybride ist, oder  wie ein Hundeliebhaber, der einen hohen Preis für einen reinrassigen Pudel  bezahlt hat, um dann bei näherer Betrachtung feststellen zu müssen, dass es  sich um einen inzuchtgeschädigten Dackel handelt. Ein Experte hätte eventuell  von Anfang an darauf hingewiesen, dass Vincent ein ungeeignetes Studienobjekt  sei, aber das ist nicht richtig. Früher benahm er sich vorbildlich, war  liebevoll und zärtlich. Er achtete auf seine Gesundheit und lebte wie ein  normaler Mann. Die Veränderung machte sich nur langsam bemerkbar, und erst in  letzter Zeit stand ihm die Katastrophe ins Gesicht geschrieben.
                  
                  
                    | Buchtipp | 
                  
                    |  | 
                
         
         Vielleicht kann ich mit meiner  Geschichte die Expertenkommission von meinen guten Vorsätzen und dem Fleiß  überzeugen, den ich in das Vorhaben investiert habe, auch wenn das Resultat in  keinster Weise meinen Bemühungen entspricht. Ich gebe zu, ich bin nervös. Ich  habe Angst, nicht zu bestehen, und bin zu alt, um eine neue Untersuchung zu  beginnen. Doch letztlich sind wir alle dem Urteil der Expertenkommission  ausgeliefert. Lassen Sie mich bitte meine Geschichte mit der Genauigkeit und  der Fülle an Details vorbringen, die charakteristisch für eine betagte  Empirikerin sind. Lassen Sie mich ohne Unterbrechungen erzählen– diejenigen,  die später Urteile fällen, werden abschließend ausreichend Gelegenheit haben,  sich zu Wort zu melden.
          
          Danke an den Argument Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.