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Pastor war mit der Entscheidung der Organisation sehr 
          zufrieden: Das Schicksal des EU-Kommissars, der für die Erweiterung 
          der Union zuständig war, sollte sich im Atheneum vollenden. Eindrucksvoller 
          konnte seine Rache nicht beginnen. Am Rande des Rautatie-Platzes gegenüber 
          dem Atheneum hielten der Journalistenbus, der schwarze Mercedes mit 
          EU-Kommissar Walter Reinhart und die Polizeieskorte an. Es war ein klarer 
          Samstagmorgen im September, der Seewind wirbelte den Staub auf. Im Zentrum 
          Helsinkis herrschte auf den Fußwegen schon ein dichtes Gedränge; 
          Busse und Straßenbahnen fuhren ihre Runden. Der Verkehrslärm 
          drang als gleichmäßiges Rauschen in den Pressebus. Die Journalisten, 
          die vom Finnlandbesuch Reinharts berichteten, hörten der Stadtführerin 
          aufmerksam zu. Ein Mann von "Corriere della Sera" erkundigte 
          sich auf englisch nach der Inschrift "Concordia res parvae crescunt" 
          im Giebeldreieck des Atheneums. Durch Eintracht wächst Kleines, 
          dachte Pastor, während sich die Stadtführerin noch räusperte. 
          Dieses Motto bezog sich auf Meinungsverschiedenheiten zwischen Künstlern 
          und dem Finnischen Kunstverein in der Projektierungsphase des Atheneums 
          Er hatte alles über die finnische Nationalgalerie gelesen. Ihm 
          durfte kein Fehler unterlaufen, damit ihr Vorhaben nicht durch sein 
          Verschulden scheiterte. Seine Wangenmuskeln waren angespannt. Auf dem 
          Namensschild an seiner Jacke war zu lesen: "Alexander de Gadd, 
          Magyar Nemzet". In Budapest bekam die Organisation problemlos alles, 
          was sie wollte; in den meisten wichtigen Unternehmen und Institutionen 
          hatte sie ihre Helfer, so auch in der Zeitung "Magyar Nemzet". 
          Pastor stieß seinem serbischen Kollegen, der, als Fotograf getarnt, 
          neben ihm saß, den Ellbogen in die Seite, weil der Mann mit dem 
          Absatz auf den Boden klopfte. Als der Besuch von Kommissar Reinhart geplant wurde, 
          hatte man größten Wert auf Sicherheit gelegt. Seit dem Herbst 
          2001 achtete man angesichts der allgegenwärtigen Terrorismusgefahr 
          bei allen Reisen von EU-Kommissaren darauf. Reinhart würde den 
          Polizeikonvoi nur verlassen, um in Begleitung eines Mitarbeiters der 
          SUPO, der finnischen Sicherheitspolizei, die wenigen Meter vom Mercedes 
          bis zum Atheneum zu gehen, das für den Publikumsverkehr geschlossen 
          war. Pastor wußte alles über die Sicherheitsvorkehrungen 
          und den Ablauf im Museum; das fünfzehnköpfige Exekutionskommando 
          hatte diese Liquidierung wochenlang vorbereitet. Alles würde funktionieren, 
          das war so sicher und unausweichlich wie die Wirkung der Schwerkraft.Danke an den Gustav Kiepenheuer Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Er holte ein Handy aus seiner Brusttasche und vergewisserte sich zum 
          wiederholten Male, daß die Verbindung zum Koordinator der Gruppe, 
          die sie unterstützte, noch bestand. Pastor war ungemein stolz auf 
          seine Aufgabe. Nicht das Töten an sich, sondern das Motiv und der 
          Zweck der Tat erfüllten ihn mit Stolz. Die Politiker sorgten dafür, 
          daß Finnland im Eiltempo mit der EU verschmolzen wurde, obwohl 
          nur gut ein Drittel der Finnen die EU-Mitgliedschaft für wünschenswert 
          hielt. So wie einst Schweden und Rußland würde auch die Union 
          Finnland zu ihrem Vasallen machen. Sein Land sollte auf zivilisierte 
          Weise erobert werden. Erst der Beitritt, dann die Verschmelzung. Nur 
          die stärksten Persönlichkeiten waren auserkoren, sich gegen 
          die Okkupanten zu erheben, das war in der Vergangenheit nicht anders 
          als heute. Pastor bemerkte, daß eine zierliche Journalistin südeuropäischen 
          Typs zu ihm herüberschaute. Doch das beunruhigte ihn keineswegs. 
          Sein Aussehen war völlig verändert: Eine blonde Perücke 
          bedeckte die kurzen Haare, die dunklen Augenbrauen hatte er hell gefärbt, 
          Kontaktlinsen ließen seine blauen Augen braun erscheinen, und 
          eine große Metallbrille beherrschte sein Gesicht. Die Ohren waren 
          mit Tape an der Kopfhaut befestigt, und eine Schaumstoffprothese ließ 
          die Unterlippe vorstehen. Sogar sein kantiges, hakenförmiges Kinn 
          wirkte nun runder, die Haut an Hals und Kinn war so geklebt, daß 
          sich ein kleines Doppelkinn gebildet hatte. Niemand würde ihn auf 
          den Bildern der Überwachungskameras erkennen können. Als ihm 
          bewußt wurde, daß er heftig atmete, lehnte er sich zurück, 
          holte tief Luft und atmete mehrmals betont ruhig aus und ein. Noch ein 
          paar Minuten. Es war kurz vor halb neun. Gegenüber den EU-Vertretern 
          vor Ort hatte Reinhart den Wunsch geäußert, die finnische 
          Malerei kennenzulernen, deshalb war ein halbstündiger Besuch des 
          Atheneums in seinen straffen Zeitplan eingebaut worden. Die Besichtigung 
          wäre zu Ende, bevor sich die Türen des Museums um neun für 
          das Publikum öffneten. Um halb zehn würde Reinhart die Parlamentspräsidentin 
          treffen, um halb elf den Ministerpräsidenten, um eins hatte die 
          Präsidentin zu einem Mittagessen geladen, und um halb drei würde 
          er ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten und dem Außenminister 
          über den gegenwärtigen Stand der Verhandlungen zur EU-Erweiterung 
          führen. Um vier sollte eine kurze Pressekonferenz folgen. Reinhart 
          war letzte Nacht aus Schweden eingetroffen und würde am Abend nach 
          Holland weiterreisen. In den nächsten Wochen wollte er alle EU-Mitgliedsländer 
          besuchen.
 "Das Atheneum wurde vom Architekten Theodor Höijer entworfen 
          und im Jahre 1887 fertiggestellt", erklärte die Führerin 
          in ruhigem Tonfall zunächst in englisch, anschließend in 
          französisch. Dann setzte sie ihren auswendig gelernten Vortrag 
          fort: "Die Göttin der Kunst im Giebeldreieck, die Karyatiden, 
          jene Frauenskulpturen, die das Hauptportal bewachen, und die Porträts 
          der großen Meister Bramante, Feidias und Rafael, die über 
          dem Haupteingang in Richtung Nationaltheater Ausschau halten, hat C. 
          E. Sjöstrand geschaffen. Die anderen Ornamente sind das Werk von 
          Ville Vallgren und Magnus von Wright."
 Die wärmenden Strahlen der frühlingshaften Morgensonne fluteten 
          den Bus. An diesem Tag hatte der Herbstregen eine Pause eingelegt, als 
          nehme er auf ihre Aktion Rücksicht. Pastor entdeckte auf dem Ärmel 
          seines grauen Anzugs ein Haar, zupfte es weg und holte ein Taschentuch 
          heraus, um einige Staubkörner von seinen Schuhspitzen zu wischen. 
          Ein Gentleman war stets gut angezogen, nicht unbedingt teuer oder modisch, 
          aber immer korrekt und geschmackvoll. Alles mußte stimmen. Seine 
          Handflächen schwitzten, obwohl er ganz ruhig war. Die Führerin 
          hatte ihren Vortrag beendet und teilte das ihrer Kollegin in Reinharts 
          Wagen mit. Es war Zeit hineinzugehen.
 Pastor beobachtete, wie der schwarze Mercedes mit Reinhart zwischen 
          einem Polizeiauto und einem Mannschaftswagen beschleunigte, auf die 
          Kaivokatu fuhr und in die Keskuskatu einbog. Er wußte, daß 
          der Wagen hinter dem Kunstmuseum am Eingang zum Atheneum-Saal halten 
          würde. Im Mercedes saßen außer dem Fahrer und Kommissar 
          Reinhart die Führerin und ein Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung 
          der SUPO. Der würde als erster aussteigen, kontrollieren, ob der 
          Weg sicher war, und dann Reinhart und die Führerin ins Atheneum 
          begleiten. Die Polizeiautos würden hinter dem Museum parken. Wie 
          international üblich, war die Sicherheitspolizei für den Personenschutz 
          Reinharts verantwortlich und die Polizei für die Bewachung der 
          besuchten Objekte.
 Der Pressebus kurvte vor das Atheneum, die Journalisten stiegen aus, 
          unterhielten sich lebhaft und folgten ihrer Führerin zum Haupteingang. 
          Neugierig blieben ein paar Passanten stehen und schauten sich die Gruppe 
          an. Pastor und der Serbe liefen direkt hinter der Führerin. Die 
          Anspannung ließ sich jetzt etwas leichter ertragen, weil das Warten 
          ein Ende hatte. In der unteren Eingangshalle sprach, wie erwartet, ein 
          Sicherheitsbeamter des Atheneums in sein Funkgerät. Als die Führerin 
          ihren Vortrag über die prächtigen Skulpturen Walter Runebergs 
          in der Eingangshalle begann, gingen Pastor und der Serbe schon in Richtung 
          Toilette. Sie hörten noch den Namen der Skulptur von Apollo und 
          Marsyas, dann fiel die WC-Tür ins Schloß. Die Männer 
          öffneten den Boden des metallenen Kamerakoffers und entnahmen ihm 
          ihre Waffen. In der Vertretung der EU-Kommission in Helsinki hatte man 
          sie zwar kontrolliert, aber den doppelten Boden und die Pistolen nicht 
          entdeckt. Dem Serben liefen dicke Schweißtropfen über die 
          Stirn. Beide kehrten zu den anderen zurück, als die Journalisten, 
          Kommissar Reinhart, die zwei Führerinnen und der SUPO-Mitarbeiter 
          auf halber Höhe des monumentalen Treppenhauses angelangt waren. 
          Die grauen Steinstufen führten zu den Ausstellungssälen im 
          ersten Stock. Pastor blickte hinauf zu den schönen Deckenornamenten. 
          In dem hohen und weiten Treppenhaus konnte nicht einmal das Stimmengewirr 
          Von zwei Dutzend Menschen das Klappern der Schuhabsätze übertönen. 
          Die Gruppe erreichte den Mosaikboden am Ende der Treppe im ersten Stock 
          und betrat den Ausstellungssaal. Hinter ihnen schloß sich leise 
          rauschend die doppelte Schiebetür aus Panzerglas.
 
 
 
                  
 
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