| Erstes Kapitel Leseprobe
Heftiger Regen prasselte auf die Frontscheibe des Autos 
          und lief in kleinen Rinnsalen das Glas hinab. Für einen Augenblick 
          war der riesige Schiffskörper der Estonia deutlich zu erkennen, 
          bevor seine Konturen nach und nach wieder verschwammen. Bo Lindgren 
          trommelte ungeduldig auf das Steuer, während er mit den Augen ein 
          paar jungen Männern und Frauen folgte, die sich bei Wind und Nieselregen 
          am Eingang des Estonia-Terminals schüttelten. Einige der jungen 
          Männer boxten sich hin und wieder lachend in die Seiten, weil die 
          Gegenwart der Frauen sie offenbar verlegen machte und gleichzeitig animierte, 
          sie zu beeindrucken. Bo Lindgren zweifelte nicht, daß sie Touristen 
          waren - nicht wegen ihrer Kleidung, denn die Esten kleideten sich inzwischen 
          außerordentlich gut, sondern aufgrund ihrer Unbefangenheit, die 
          hinter der Verlegenheit zum Vorschein kam, eine Unbefangenheit, die 
          sich die Esten zwar angeeignet hatten, aber selten zur Schau stellten.
 Jahrhunderte währende Unterdrückung hatte die Esten gelehrt, 
          sich zu "ducken", und es war für Bo ein Spiel geworden, 
          sie von den Russen unterscheiden zu können. Die Esten sprachen 
          gedämpft miteinander, während die Russen laut ihre Stimmen 
          erhoben und lachten, als wollten sie damit verdrängen, daß 
          gerade sie in Estland am allerwenigsten zu lachen hatten.
 Endlich begannen die Lastwagen, an Bord zu rollen. Die Fahrer am Ende 
        der Schlange atmeten erleichtert auf. Viele von ihnen hatten sicherlich 
        gefürchtet, für sie würde kein Platz mehr sein.
 Auf dem Beifahrersitz fragte sich Bos estnische Verlobte Viivi Mättik 
          besorgt, ob es ihrer Tante Anna auch gelingen würde, ihr Geschäft 
          zu führen, während sie mit Bo in Stockholm war. Natürlich 
          war sie dazu in der Lage. Das mußte sie schließlich auch, 
          wenn sie es eines Tages übernehmen wollte. Aber würde sie 
          auch daran denken, die Geldkassette am Abend in den Safe zu legen? Und 
          die Bestandsaufnahme am Mittwoch, wenn der Großhändler die 
          neuen Taschen brachte? Kannte sie die Ladenpreise der ... Laß 
          gut sein!, sagte sie zu sich selbst und legte ihre Hand auf Bos, um 
          sein ungeduldiges Trommeln zu stoppen. "Ich muß mal. Oder 
          trommel Jedenfalls so laut, daß die Hafenarbeiter dich hören 
          und einen Zahn zulegen."
 In diesem Moment wurden auch schon die Busse herangewinkt, und einige 
          Minuten später folgten die Personenwagen.
 
 Von einem Flügel der Kommandobrücke aus warf Kapitän 
          Nikolaj Lopukhin einen kurzen Blick auf die übrigen Schiffe, die 
          im Hafen lagen, und betrachtete dann über die flachen Gebäude 
          hinweg die Stadt. Die senkrechte Falte zwischen seinen Brauen entsprang 
          nicht der Sorge über das angekündigte Wetter, sondern dem 
          Ärger darüber, daß sie Tallin mit mindestens zehnminütiger 
          Verspätung verlassen würden - eine Verspätung, die bei 
          dem angekündigten Unwetter kaum aufzuholen sein würde. Kapitän 
          Lopukhin war ein ehrgeiziger Mann mit ausgeprägtem Ehrgefühl, 
          dem es sowohl um den eigenen Ruf als auch um den der Reederei ging, 
          vor allem aber um die Ehre seiner wiederauferstandenen Nation. Sollte 
          Estland im Laufe weniger Jahre westlichen Standard erreichen, mußte 
          der Welt bewiesen werden, daß sie sich auf den früheren Ostblockstaat 
          hundertprozentig verlassen konnte. Und nach seiner festen Überzeugung 
          waren Zuverlässigkeit und Präzision die Schlüsselbegriffe, 
          die diesen den Weg zum "Gelobten Land" bahnen konnten. Vor 
          weniger als zehn Minuten hatte er vom Chef der estnischen Abteilung 
          der Reederei einen Anruf erhalten. "Ich weiß, daß Sie 
          bereits Verspätung haben und eine Sturmwarnung ausgegeben wurde, 
          aber sorgen Sie trotzdem für ein pünktliches Einlaufen in 
          Stockholm. Es spielt keine Rolle, wieviel Treibstoff sie verbrauchen", 
          hatte er noch hinzugefügt.
 Kapitän Lopukhin lächelte wieder. Unabhängig von Wind 
          und Wetter, war die Estonia niemals mehr als fünfzehn Minuten verspätet 
          in den Hafen eingelaufen, und mit einem Freibrief der Reederei, einem 
          ziemlich neuen Schiff und 24000 PS im Rücken würde er schon 
          dafür sorgen, daß die magische Viertelstunde nicht überschritten 
          wurde.
 
 
 
                  
 
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                    |  |   Auf dem Kai am Bug des Schiffes gab der Lastenoffizier, der für 
          die Einschiffung und Gewichtsverteilung der Last- und Personenwagen 
          zuständig war, dem Bootsmann ein Zeichen, mit der Achtertrosse 
          noch zu warten, und blickte zur getönten Scheibe der Kommandobrücke 
          hinauf. Er wußte, daß der Kapitän ihn beobachtete und 
          ungeduldig auf das Signal zum Ablegen wartete. Mit einer heftigen Armbewegung 
          forderte er den Fahrer eines schwarzen Lastwagens auf, an Bord zu fahren. 
          Dann ging er auf das Autodeck, um sich zu vergewissern, daß die 
          Trailer auf der Backbordseite des Schiffs auch vorschriftsmäßig 
          vertäut waren, überprüfte mit dem Fuß, ob die Ketten 
          stramm genug gespannt waren, und ging danach zur Laderampe.Danke an den Aufbau TB Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.
 Am Nachmittag waren zwei Schiffsinspekteure an Bord gewesen, die bemängelt 
          hatten, daß die Gummidichtungen nicht vollständig zur Laderampe 
          hin abschlossen, und während die Hydraulik die Rampe an ihren Platz 
          in das Lager drückte, ging er zuerst nach Steuerbord und dann nach 
          Backbord, um nachzusehen, ob zwischen Rampe und Dichtung das Licht hindurch 
          schien. Doch er mußte feststellen, daß es für diesen 
          Check draußen bereits zu dunkel war. Statt dessen drückte 
          er an einzelnen Stellen mit den Fingern gegen die Gummidichtung, um 
          zu testen, ob er Verhärtungen spürte, die auf undichte Stellen 
          schließen ließen. Er tat dies weniger, weil er sich um seine 
          eigene Sicherheit, die der Passagiere oder der Besatzung sorgte, sondern 
          aus Verärgerung darüber, den bemängelten Defekt nicht 
          selbst bemerkt zu haben.
 
 Doch auch wenn er ihn selbst entdeckt und der Reederei gemeldet hätte, 
          wäre dies keine Garantie dafür gewesen, daß man ihn 
          bereits provisorisch behoben hätte. So gesehen machte es also keinen 
          Unterschied, zumal die Inspekteure dem Schiff kein Fahrverbot erteilt 
          hatten. Das bißchen Wasser, das unter extremen Bedingungen bei 
          den Dichtungen eindringen konnte, würde einfach über das Autodeck 
          fließen und durch die Rückschlagventile ablaufen. "Ist 
          das defekte Pall schon repariert?" wandte er sich an einen der 
          Matrosen.
 
 "Das ... das weiß ich nicht."
 
 "Sonst schlagen Sie es mit dem Vorschlaghammer fest", fügte 
          der Lastenoffizier hinzu und begann auf der Steuerbordseite des Autodecks 
          die Ketten zu überprüfen, mit denen die Lastzüge festgezurrt 
          waren.
 In einem großen, hellen Büro eines neueren Bürokomplexes 
          im Zentrum von Stockholm las der PR-Chef Steen Sörman den Bericht, 
          der vor ihm lag, noch einmal, doch er mußte feststellen, daß 
          er sich den Inhalt nicht merken konnte. Irritiert von seiner Konzentrationsschwäche, 
          stand er auf und ging an den Barschrank, schenkte sich ein Glas Whisky 
          ein und stellte sich ans Fenster. Ein weiteres Problem war zu den vielen 
          vorübergehenden Schwierigkeiten hinzugekommen, die seine Firma 
          in eine permanente Krise stürzten. Obwohl Steen wußte, daß 
          er ihn vom Fenster aus nicht sehen konnte, wanderte sein Blick dennoch 
          in Richtung des Värtahafens, wo die estnische Fähre am nächsten 
          Morgen anlegen und mit einem Teil ihrer Fracht die Probleme seiner Firma 
          lösen würde. Vorübergehend nur - wie immer!
 
 Mit einem müden Lächeln leerte Steen das Glas in einem Zug, 
          stellte es neben die beiden anderen benutzten Gläser auf den Teewagen, 
          der neben der Tür stand, und setzte sich wieder an den Schreibtisch. 
          Wenn er in Kürze die Nachricht erhielt, die Estonia sei planmäßig 
          ausgelaufen, konnte er sich endlich entspannen und auf den Bericht konzentrieren. 
          Sich über die Schiffsreise selbst den Kopf zu zerbrechen, dazu 
          bestand kein Anlaß.
 Im Maschinenkontrollraum hatte der Chefingenieur Jakob Skalbe die vier 
          Hauptmotoren der Estonia angeworfen und wunderte sich darüber, 
          daß der Kapitän nicht angeordnet hatte, die Steuergnffe umzustellen, 
          damit die Motoren direkt von der Kommandobrücke aus bedient werden 
          konnten. Unwillkürlich wandte er seinen Kopf den drei kleinen Monitoren 
          zu, die Schwarzweißbilder vom vordersten Bereich des Autodecks 
          übertrugen, und sah, daß die Laderampe geschlossen war. Mit 
          einem raschen Blick auf die Schalttafel mußte er aber feststellen, 
          daß sich das Visier immer noch nicht gesenkt hatte.
 
 In diesem Moment kam der dritte Ingenieur Peeter Klaar aus dem Maschinenraum, 
          weil der Chefingenieur ihn gebeten hatte, ein merkwürdiges Geräusch 
          beim Hauptmotor 3 zu untersuchen. "Es ist eine der Düsen", 
          erklärte er schließlich und wischte sich die Hände sorgfältig 
          an einem blauen Lappen ab.
 
 "Hält die Düse bis nach Stockholm durch?"
 
 "Ja", sagte Peeter Klaar und nickte. "Das sollte kein 
          Problem sein."
 
 "In Ordnung. Wir wechseln sie dort aus."
 
 Peeter Klaar trat einige Schritte nach vorn und betrachtete eine Sektion 
          rot, grün und gelb leuchtender Kontrollampen, warf einen Blick 
          auf die Uhr und blickte den Chefingenieur fragend an. Der zuckte mit 
          den Schultern. "Wir sind bestimmt...", begann er, wurde aber 
          durch das Schnarren der Sprechanlage unterbrochen.
 
 "Stellen Sie bitte die Steuergriffe nach oben", hörten 
          sie Kapitän Lopukhin sagen.
 Peeter Klaar deutete auf den Knopf einer kleinen Schalttafel, die sich 
          direkt unter den Steuergriffen befand, und sah den Chefingenieur erneut 
          fragend an.
 Der Ingenieur nickte, drückte eine Taste der Sprechanlage und sagte: 
          "Ich stelle um, zwei plus zwei!" Er ließ die Taste los 
          und ging zur Tür hinüber, betrat dann kurz den großen, 
          sauberen Maschinenraum mit den hellgrünen Motoren und lächelte 
          den dritten Ingenieur zufrieden an.
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