| 1 Leseprobe
Die Gestalten in den Büros sahen alle gleich aus.Mit gekrümmten Rücken und nach vorne geschobenen Hälsen 
        saßen sie da wie Raubvögel auf der Jagd. Angespannt und wachsam. 
        Die Hände auf der Tastatur und die Augen im weißen Licht des 
        Bildschirms gebadet. Körper, auf Schreibtischstühlen festgeschraubt.
 Ihre Gesichter waren der Kamera zugewandt, doch ihre Blicke wirkten abwesend. 
        Auf einen Punkt in der Unendlichkeit gerichtet, irgendwo hinter dem Bildschirm. 
        Das kalte Licht ließ ihre Gesichter blass erscheinen. Sie zerschmolzen 
        zu leblosen Masken auf erstarrten Körpern. Vom Licht des Bildschirms 
        aufgesogen.
 Auch die Büros sahen alle gleich aus: schmale Zellen ohne Fenster 
        - quadratische Gefängnisse in endlosen Bürolandschaften. Der 
        Schreibtischstuhl vor dem Computer. Dahinter vielleicht ein Regal mit 
        Fachbüchern und eine stumpfweiße Magnettafel an der Wand. Sonst 
        nichts.
 Überall konnte man die Anwesenheit des Bildschirms spüren. Selbst 
        während die Büros verlassen dalagen und sich niemand im kalten 
        Licht der Kamera spiegelte, spürte man sie. Als seien die Büros 
        um ihn herum gebaut worden. Nur um dem Bildschirm einen passenden Rahmen 
        zu geben. Als befände sich jenseits der Zelltrennwände und der 
        Türen im Bildhintergrund nichts als ein unendlich leerer Raum. Ein 
        dunkles Vakuum, in dem die Büros frei umherschwebten. Als sei einzig 
        die Wirklichkeit des Bildschirms real und die Büros nur eine notwendige 
        Kulisse. Er griff nach der Kaffeetasse neben der Tastatur. Streifte dabei 
        die Maus. Durch die Bewegung lösten sich die Bilder auf.
 Darunter kamen seine Gleichungen zum Vorschein. Legten sich über 
        die Seiten wie zierliche Verzierungen auf weißem Hintergrund.
 Er bewegte den Cursor langsam über sie hinweg. Wählte eine neue 
        Stelle aus und fügte eine Zeile hinzu.
 Der Cursor hatte sich nicht weiter bewegt, als neue Bilder über den 
        Gleichungen hervor wuchsen. Sie bedeckten den Text mit ihren Quadraten. 
        Füllten den Bildschirm nach und nach wie einzelne Puzzlestücke 
        in einem Puzzlespiel.
 Gleichartige Gestalten in gleichartigen Büros. Vor dem Bildschirm 
        erstarrt. Grobkörnig aufgrund der schlechten Bildauflösung. 
        Die Gesichtszüge wie ausgelöscht.
 Mit einem Klick auf die Maus lösten sich die Bilder auf. Die Gleichungen 
        traten hervor. Er klickte mit dem Cursor auf eine leere Zeile, legte die 
        Hände auf die Tastatur und blickte zum Fenster hinaus.
 Hinter dem Bildschirm herrschte dichte Dunkelheit. Dicht wie ein Sonntagabend 
        im Januar. Er blickte über den leeren Parkplatz zum Vorlesungsgebäude 
        des Physikalischen Instituts hinüber. Schmale Panoramafenster, die 
        sich durch die Mauer schnitten. Schwarz glänzend. Auf halber Höhe 
        der Hörsäle blinkten die roten Augen der Alarmanlage. Etwas 
        weiter entfernt konnte er schemenhaft eine Reihe gleichförmiger lnstitutsgebäude 
        erkennen, die aus der Landschaft herausragten. Das Licht der wenigen erleuchteten 
        Büros erinnerte ihn an einsame Schiffe auf einem dunklen Meer.
 Er streckte die Hand aus und griff nach der Tasse. Die Keramik fühlte 
        sich in seiner Hand kalt an. Missvergnügt starrte er in die matte 
        Oberfläche der Flüssigkeit. Stand schließlich mit der 
        Tasse in der Hand auf. Warf den Gleichungen noch einen letzten Blick zu, 
        bevor er auf den Flur hinaustrat. Hinter seinem Rücken konnte er 
        hören, wie die Festplatte zu tickern begann.
 Er lief durch den nackten Flur. Passierte die grauen Türen, die zu 
        schmalen gleichförmigen Büros auf beiden Seiten führten. 
        Hinter ihren Türen war als einziges Geräusch das dumpfe Summen 
        von Computern im Stand-by-Modus zu hören.Er war heute Nachmittag hier heraus gekommen. Hatte gehofft, sich im Institut 
        besser konzentrieren zu können als zu Hause in seiner Wohnung. Seit 
        der Mann vom Wachpersonal um sechs Uhr vorbeigekommen war, hatte er niemanden 
        mehr gesehen außer den einsamen Gestalten auf dem Bildschirm.
 Nun starrten sie ihn durch eine offene Tür vom Computer aus an, blickten 
        in eines der vielen leeren Büros hinein. Ein Mosaik von gleichartigen 
        Gestalten. Jedes Bild wurde zufällig aus Tausenden von Webcams ausgewählt, 
        jede Szene von einem anderen Ort ins Netz übertragen.
 Bilder von Menschen, die miteinander verkoppelt waren. Vom Internet aufgesogen. 
        Zu einem virtuellen Organismus verschmolzen, der alle digitalen Informationen 
        verdaut.
 Er war selbst ein Teil davon. Seine Gleichungen ein Teil der Nahrungskette. 
        Gleichungen, die in den unendlichen Byteströmen, die sich unsichtbar 
        über Antennen und zwischen Satelliten bewegten, Fehler fanden. Sie 
        konnten aus Millionen von Bytes genau das eine Byte herausfiltern, mit 
        dem ein weiterer Fernsehkanal gesendete ein paar tausend Telefonate mehr 
        geführt werden konnten. Gleichungen, für deren Herleitung ein 
        Organismus wie die Technische Universität Dänemarks bereit war, 
        ihm ein Promotionsstipendium zu erteilen. Er schenkte sich Kaffee in der 
        lnstitutsküche ein. Er schmeckte verbrannt und sah teerartig aus, 
        nachdem er stundenlang in der Kaffeemaschine vor sich hin geschmort hatte. 
        Dann ging er mit der Tasse in den Händen zurück zu seinem Büro.
 Das Telefon klingelte in dem Augenblick, als er den Flur wieder betrat. 
        Er blieb kurz stehen und lauschte dem Klingelzeichen. Versuchte herauszufinden, 
        aus welchem Büro es kam. Er bezweifelte, dass es seines war. Nur 
        selten rief ihn jemand im Institut an. Oder zu Hause - wenn man so wollte.
 All seine Bekannten kommunizierten per E-Mail. Er schüttelte den 
        Kopf und ging mit seiner Tasse in der Hand weiter, ohne sich aus der Ruhe 
        bringen zu lassen.
 Als er die Hälfte des Flures passiert hatte, wurde er dennoch unruhig. 
        Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Es wurde immer deutlicher, 
        je näher er an sein Büro herankam. Zu deutlich. Die meisten 
        Türen waren verschlossen. Außer seiner eigenen. Er ging ein 
        wenig schneller. Hielt die Tasse mit ausgestrecktem Arm vor sich hin, 
        um nichts zu verschütten. Vor der Tür war er sich sicher. Betrat 
        schnell das Büro, so dass der Kaffee in der Tasse schwappte, und 
        machte einen großen Satz zum Schreibtisch hin. Beugte sich darüber. 
        Nahm den Hörer von der Gabel und hörte gerade noch das trockene 
        Klicken eines Telefonhörers, der am anderen Ende aufgelegt wurde.
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Mit dem Hörer in der Hand blieb er vor dem Schreibtisch stehen. Überlegte, 
          wer das gewesen sein könnte. Die Zentrale war um diese Zeit nicht 
          mehr besetzt, also musste jemand seine Durchwahl benutzt haben. Er erinnerte 
          sich nicht, sie jemandem gegeben zu haben. Konnte sich selbst kaum an 
          sie erinnern.Danke an den Bastei Lübbe Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Während er den Hörer auflegte, schielte er auf die Bilder, die 
          den Bildschirm vor ihm füllten. Schmunzelte, als er sah, dass eine 
          der Gestalten, die ebenfalls einen Hörer in der Hand hielt, ihn soeben 
          auflegte. Er sah sich die anderen Bilder an. Es schien, als seien sie 
          anders als sonst. Harmonischer.
 Er schmunzelte noch immer, als ihm bewusst wurde, was nicht stimmte.
 Es war der Hintergrund, der ihn darauf brachte. Das unbewusste Gefühl 
          des Gehirns für die natürlichen Formen, mit denen wir umgeben 
          sind. Ganz egal, ob die Bilder aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommen 
          worden waren und von verschiedenen Webcams stammten, das Gehirn schnitt 
          sie zusammen. Schuf die Ganzheit.
 Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Sah, wie die Bilder langsam 
          nacheinander erschienen. Das war doch nicht möglich.
 Die Gestalt mit dem Telefonhörer hatte sich erhoben. Sprach mit einer 
          anderen Gestalt im Hintergrund. Langsam, auf einer Serie von Bildern, 
          kam die eine Gestalt aus dem Hintergrund näher. Sie traf sich mit 
          der anderen in der Mitte des Raumes.
 Er kniff die Augen zusammen, um die grobkörnige Bildauflösung 
          auszugleichen. Versuchte, die weich umrissenen Gestalten scharf zu stellen. 
          Sie standen in einem größeren Raum. Nicht in einem Büro 
          oder einer Zelle in einer Landschaft von Trennwänden. Vielleicht 
          in einem Raum, der ringsum mit Computern ausgestattet war. Mit Kameras, 
          die jede Szene von jedem Blickwinkel aus rekonstruieren konnten.
 Für eine kurze Zeit standen die Gestalten einander gegenüber. 
          Diskutierten entspannt mitten im Raum. Dann setzten sie sich mit einem 
          Mal in Bewegung. Kreisten langsam umeinander herum. Wie bei einem Tanz. 
          Ihre Bewegungen wurden mit der Zeit markanter. Ihre Arme schlugen hektisch 
          vom Körper aus.
 Aggressiv.
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