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Sie lag mit dem Gesicht nach unten, in zwei dicht stehende 
          Bäume am Ufer verfangen. Ihre Hände waren gespreizt, wie zwei 
          kleine ockergelbe Fächer im leicht schäumenden Wasser der 
          Aker. Ich balancierte über die wackeligen Steine im Flussbett und 
          stand bis zu den Knien im Wasser. Da erkannte ich meine Frau an der 
          kleinen Grube zwischen Schädel und Nacken, die ich so oft massiert 
          hatte.Ich drehte sie nicht um. Es genügte, sie so zu sehen. Ihren Hals 
          zu sehen. Er hatte eine dunkelrote Kerbe, verursacht von einer Schnur, 
          die die Vertiefung ihres Nackens mehrfach kreuzte und so stramm saß, 
          dass ich nicht einmal einen Finger darunter schieben konnte. Ich befreite 
          sie aus den Bäumen, hob sie hoch, stützte ihren Oberkörper 
          auf mein Knie und streichelte ihren eingeschnürten Hals. Über 
          das Haar konnte ich ihr nicht streichen. Sie hatte keine Haare mehr. 
          Von ihrem dichten Blond waren nur ungleichmäßig abgeschnittene 
          Stoppeln geblieben. Wie eine Badekappe. Jemand war so rücksichtsvoll 
          gewesen, ihr eine Badekappe aufzusetzen. Sie war voll bekleidet. Die 
          Strömung trieb sie immer weiter in meine Arme. Ich begann, den 
          malträtierten Nacken mit leichten Küssen zu bedecken. Irgendwann 
          hörte ich ein Geräusch auf den Steinen hinter mir. Es kam 
          Bewegung ins Wasser. Ich blickte hoch und sah verschwommen eine Uniformhose 
          mit aufgenähten Leuchtstreifen. Ich hielt Turid fester  die 
          Polizei war da. Sie störte unseren Frieden.
 «Lassen Sie uns hier übernehmen», sagte eine Stimme. 
          Jemand berührte mich vorsichtig an der Schulter.
 «Ganz ruhig, wir tun ihr nichts», sagte ein anderer, als 
          ich mich wehrte.
 «Ihr nichts tun?», hörte ich mich antworten, so zäh, 
          als habe mir jemand den Mund verklebt. Als könne man ihr noch Schlimmeres 
          antun. Als ich wieder auf meine Hände sah, war sie mir entglitten. 
          Sie drehten sie um. Ihre Augen waren verdreht und weiß. Die Nase 
          gebrochen. Ich sagte ihren Namen wie eine Beschwörung, wie einen 
          Bann gegen diesen Anblick  und wurde taumelnd ans Ufer geführt. 
          Sie zogen mich eine zwei Meter hohe Mauer hoch, bis ich im kalten Nieselregen 
          schwankend auf dem Asphalt stand. Fünfzig Meter weiter fl ussaufwärts 
          stürzte das Wasser einen kleinen flutlichterleuchteten Wasserfall 
          hinab, die Vøyenfälle. Sie dröhnten wie Dampfhämmer. 
          Am anderen Ufer waren ein paar Spaziergänger stehen geblieben, 
          sie beobachteten neugierig die Autos mit Blaulicht und die Techniker 
          der Spurensicherung, die mit ihrer Arbeit begonnen hatten. Jemand bot 
          mir eine Zigarette an. Ich nahm sie, obwohl ich seit zehn Jahren nicht 
          mehr geraucht hatte. Meine Lungen vertrugen es nicht. Jemand klopfte 
          mir auf den Rücken, bis der Hustenanfall vorüber war, und 
          ich rauchte die Zigarette bis zum Filter. Dann warf ich sie weg, und 
          sie verlosch im Flusswasser, aus dem die inzwischen eingetroffenen Sanitäter 
          Turid gerade herausholten. Ein Frauengesicht erschien in meinem Blickfeld. 
          Ein unzerstörtes Frauengesicht, dachte ich sofort. Mirjam Paulsen. 
          Strenge Frisur und zweckmäßige Kleidung.
  «Kommen Sie. Ich möchte kurz mit Ihnen 
          sprechen. Wenn Sie können», sagte sie und wies mit der Hand 
          auf einen Streifenwagen, als hätte ich schon geantwortet. Der Nieselregen 
          wurde stärker, der Motor brummte, der Wagen drehte von der Aker 
          ab. Es war still im Auto. Eine ungebrochene Stille. Ich sank in mich 
          hinein. Aber ich drang nicht bis zu mir durch. Nicht zum Privatdetektiv 
          Aron Ask, nicht einmal zum privaten Aron. Ich kam nur bis zu Turid, 
          meiner Frau. Sie war alles für mich gewesen. Doch jetzt war sie 
          tot, und mir blieb nur noch eines: Ich stand in ihrer Schuld, sie hatte 
          mir so vielbedeutet. Die Polizisten waren fraglos ebenso motiviert wie ich, denn 
          Turid war im Dienst ermordet worden. Sie hatten ihren Korpsgeist. Ich 
          meine Liebe. Damit würden wir weit kommen. Vielleicht nicht jeder 
          für sich, aber zusammen. In Kommissarin Paulsens engem Büro 
          hängte ich meinen Kamelhaarmantel zum Trocknen auf und entledigte 
          mich der tropfnassen Schuhe und Socken. Erst jetzt begann ich zu frieren. 
          Solange ich im Wasser gestanden hatte, war mir nicht kalt gewesen  
          jetzt zitterte ich, klapperte mit den Zähnen, trank mit großen 
          Schlucken bitteren Automatenkaffee, der aber nichts bewirkte. Wir waren 
          nicht allein. Paulsens Kollege Svenning saß dabei, und neben der 
          Tür stand diskret ein Mann in einer rissigen Lederjacke und Schnürstiefeln.
 «Ich weiß, dass das schwer für Sie ist. Es ist für 
          uns alle schwer. Aber wir müssen trotzdem ein paar Dinge klären», 
          meinte Paulsen vorsichtig und blickte mit unverhohlenem Ekel auf meine 
          deformierten und verfärbten Zehennägel.
 «Ja. Zum Beispiel, wer sie umgebracht hat», sagte ich trocken 
          und spürte meine letzte Liebkosung ihrer Haut wie einen Phantomschmerz 
          in den Fingerspitzen.
 «Wie haben Sie sie gefunden?» Svenning war wesentlich jünger 
          als seine Vorgesetzte. Er hatte Bodybuilderschultern und trug einen 
          Ring im Ohr.
 «Ich sah sie. Im Fluss», sagte ich, denn so war es gewesen. 
          Auch jetzt noch sah ich sie, nichts als sie. Immer wieder hob ich sie 
          aus dem Wasser, bettete ihren Kopf auf mein Knie.
 «Wir wissen, dass sie im Fluss lag», sagte Paulsen sanft.
 «Vielleicht könnten Sie etwas 
 ausführlicher werden?»
 «Sie hätten sie finden sollen. Nein, Sie hätten verhindern 
          sollen, dass ihr das überhaupt zustößt.»
 Sie deutete auf den stummen Türwächter. «Vegard Bakke. 
          Verdeckter Ermittler. Turid war heute Abend mit ihm zusammen. Dann 
 
          haben sie sich aus den Augen verloren.»
 «Aus den Augen verloren?», fragte ich und sah Bakke an, 
          als liege die Beweislast bei ihm. Er fühlte sich nicht angesprochen.
 «Genauer gesagt: Sie sagte, sie habe eine Verabredung. Vielleicht 
          mit Ihnen?»
 Die Phantomschmerzen hielten an. Lag sie jetzt auf einem Metalltisch 
          mit einem Nummernzettel um die große Fußzehe? Bereitete 
          man sie für das Obduktionsmesser vor? Ja, wir waren verabredet 
          gewesen. Die Verabredung, die wir jeden Abend hatten, wenn wir nach 
          Hause kamen, sie spät von der Schicht, ich spät von meinen 
          jeweiligen Recherchen. Es hätte ein Abend mit Seinfeld-Videos werden 
          sollen. Avocado mit leckerer Füllung. Dazu Rot- oder Weißwein. 
          Die Brise des Föhns in ihrem frisch gewaschenen Haar, dazu die 
          letzten Neuigkeiten aus dem Polizeipräsidium. Sie musste immer 
          erst einmal den ganzen Klatsch und Tratsch und Ärger des Tages 
          bei mir abladen, bevor sie etwas essen oder trinken konnte, dazwischen 
          lachte sie sich über die mehr oder weniger intelligenten Kalauer 
          in der Glotze schlapp. Dabei öffnete sich ihr drachenfl ammender 
          Kimono wie ein Bühnenvorhang.
 Dann legte sie sich nackt in unser Bett, das ich frisch bezogen hatte, 
          denn ich erledigte den überwiegenden Teil der Hausarbeit. Diese 
          alltäglichen Tätigkeiten hatten mich zu etwas gemacht, was 
          ich zuvor nicht gewesen war: zu einem ausgeglichenen Mann.
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Das Gespräch zog sich so lange hin, dass in mir das beunruhigende 
          Gefühl aufkeimte, die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und mir 
          werde nicht ganz so glatt laufen. Die Aussichten verbesserten sich nicht 
          dadurch, dass sie mich mit einem Auto in Verbindung brachten, das im 
          Maridalsvei geparkt stand, nördlich der Waldemar Thranesgate. Meinem 
          Auto.© 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Alle Rechte vorbehalten. 
        Danke für die Veröffentlichungserlaubnis.«Bakke hat Turid zuletzt unten am Alexander-Kiellands-Platz gesehen. 
          Er ermittelt gegen eine Spielhölle in der Gegend. Jetzt haben wir 
          Klein-Balkan in Oslo», sagte Mirjam Paulsen mit einem schiefen, 
          sarkastischen Lachen. «Vom Alexander-Kiellands-Platz bis zu Ihrem 
          Wagen sind es zu Fuß keine fünf Minuten. Was haben Sie da 
          gemacht?»
 «Sie 
 Sie wissen, was ich mache.»
 «Ja, Turid hat erzählt, dass Sie Privatdetektiv sind.»
 «Eine unglückselige Allianz. Sagen Sie es ruhig.»
 «Lassen wir das. Ich muss Sie leider noch einmal fragen: Was haben 
          Sie im Maridalsvei gemacht?»
 «Ich war wegen eines Kunden da.»
 «Und der heißt?»
 «Das kann ich nicht so ohne weiteres sagen.»
 «Das werden Sie aber müssen.»
 «Kann ich darüber schlafen?»
 «Glauben Sie, Sie werden schlafen können?», fragte 
          die Kommissarin mit einer aufrichtig wirkenden Fürsorglichkeit 
          in der Stimme. Damit ließen sie mich gehen. Ich wurde nach Hause 
          gebracht. Die steilen Kehren hinauf zum Mehr familienbungalow im Betzy 
          Kjelsbergvei im Stadtteil Grefsen knallte der Regen wie Splitterbomben 
          gegen die Scheiben.
 Nachdem ich die Wohnungstür geöffnet hatte, blieb ich lange 
          lauschend im Flur stehen, flüsterte ihren Namen. Die Leere, die 
          sie hinterließ, war so groß, dass ich nach Luft schnappte. 
          Alles schien über mir zusammenzuschlagen. Ich musste ihr ihre Würde 
          wiedergeben. Wenn ich lebte, dann war es ihr Leben in mir. Ihres und 
          das des Ungeborenen. Sie war im dritten Monat schwanger gewesen.
 Das Tageslicht war nichts als ein unwilliger kleiner Spalt Grau. Nach 
          einer schlafl osen Nacht, die mir die Polizistin so korrekt vorausgesagt 
          hatte, lag ich zusammengerollt und von kaltem Schweiß bedeckt 
          auf der einen Seite des Betts und fixierte die kaum merkliche Vertiefung 
          auf der anderen Seite der Matratze. Vom Körper meiner Geliebten, 
          den es nur noch in meiner Erinnerung gab. Später schnitt ich mich 
          beim Rasieren, ließ die Klinge in das blutgerötete Wasser 
          fallen, setzte mich auf den Kachelboden, schlang die Arme um die Knie 
          und brach in Schluchzen aus. Schaukelte, schüttelte, zitterte die 
          Tränen heraus. Es war, als risse das Weinen alles aus mir heraus, 
          alles außer ihr, sie war wie ein harter Kern, es gab nur noch 
          sie und meinen festen Vorsatz, ihr Genugtuung zu verschaffen. Meine 
          Trauer war noch neu, sie war erst im Entstehen, aber es war bereits 
          eine entschlossene Trauer. Turid war nicht in einem Vakuum gestorben. 
          Ich war nicht der einzige Hinterbliebene. Sie hatte eine Familie, die 
          ich allerdings kaum kannte. Musste ich sie nicht unterrichten? Ich stand 
          mit dem Hörer in der Hand da, konnte mich aber nicht überwinden, 
          die Tasten zu drücken, die mich mit ihrem Heimatort verbunden hätten. 
          Jevnaker. Die Polizei würde das für mich tun, wenn sie es 
          nicht schon getan hatte. Ich hatte eine andere Aufgabe.
 Ich musste mich dem unfassbaren ersten Tag nach dem Mord stellen. Im 
          Bus saß ich am Fenster und ließ die Schaufenster mit Weihnachtsdekoration 
          passieren, sie widerten mich an. Den Maridalsvei hinunter erschienen 
          mir die renovierten, bunt gestrichenen Holzhäuser wie Schwarzweißfernsehen, 
          eine Idylle mit kleinen Fenstern und weißen Gardinen, die weiter 
          unten von moderneren Gebäuden abgelöst wurde.
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