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 Noch achtundvierzig Stunden
 Der Krankenwagen hielt vor dem Haupteingang der Klinik. 
          Sie trugen ihn auf einer Trage hinein. Brachten ihn in ein Einzelzimmer, 
          wo sie ihn auf dem Bett festschnallten. Die Lederriemen schnürten 
          sich an Armen und Beinen ein. Doch er rührte sich nicht. Lag mit 
          geschlossenen Augen da. Tat so, als wäre er bewusstlos. Das war 
          nicht schwer. Der Schlag an die Schläfe hatte eine Leere geschaffen, 
          in der der Körper federleicht schwebte. Er hatte Sehstörungen. 
          Alles flimmerte, wenn er die Augen öffnete. Doch sein Gehör 
          war intakt.Sie hatten ihn stundenlang verhört. Zu Anfang hatte er nichts gesagt. 
          Sie hatten versucht, ihn mit mehreren Millionen auf einem Konto in der 
          Schweiz zu ködern, wenn er in ihr Lager wechselte. Ihnen erzählte, 
          was er wusste. Doch er hatte geschwiegen. Dann hatten sie begonnen, 
          auf ihn einzuprügeln. Er hatte gekeucht und gestöhnt. Doch 
          nicht geschrien. Hatte auch nicht gesprochen. Erst als sie ihm die Wasserkur 
          verabreicht hatten, hatte er geschrien. Einen Trichter in den Mund und 
          heißes Wasser in den Trichter. Niemand kann Folter widerstehen. 
          Und er hatte die Schleusen geöffnet. Ihnen alles erzählt. 
          Fast alles. Dass er den Aufbau der Organisation kannte. Ihre Verästelungen 
          bis in die Spitzen der Gesellschaft. Dass das Imperium des Magnaten 
          Joël Global auf Korruption erbaut war. Auf allem, was die gesellschaftliche 
          Moral verurteilt. Und wovon sie gut lebt. Dass er Beweise hatte, die 
          Joël Global entlarvten. Dank korrupter Politiker heute einer der 
          Reichsten des Landes.
 Sie wollten auch wissen, ob Globals enger Mitarbeiter Gino Coldorani 
          noch lebte. Er hatte zunächst verneint. Dann hatten sie ihm wieder 
          den Trichter in den Mund gesteckt. Er hatte geschrien. Und Ja gesagt! 
          Coldorani lebte!
 Zu diesem Zeitpunkt hatte ihm dann einer von ihnen eine Eisenstange 
          über den Kopf gezogen. Und er hatte das Bewusstsein verloren. Nur 
          für ein paar Minuten. War im Krankenwagen wieder zu sich gekommen.
 
 Zwei Männer in weißen Kitteln betraten das Zimmer. Der eine 
          beugte sich über ihn und besah sich die Wunde.
 "Ein Wunder, dass er am Leben ist", sagte er. "Wir werden 
          ihn zusammenflicken müssen."
 "Lohnt sich das denn überhaupt? Er muss doch sowieso weg. 
          "
 "Ja, aber in anständiger Verfassung."
 "Warum erledigen wir ihn nicht sofort?"
 "Das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Er ist Polizeikommissar. 
          Wenn er eine Stunde nach der Einlieferung stirbt, riskieren wir, dass 
          irgendein verdammter Journalist tiefer bohrt. Nein, wir warten ein paar 
          Tage. Dann geben wir ihm die Spritze. Offiziell wissen wir ja nicht, 
          wer er ist. Ohne Papiere eingeliefert. Wenn er tot ist, setzen wir sein 
          Foto in die Zeitung und erklären, dass wir alles getan haben, um 
          ihn zu retten. Dann kommt seine Familie und holt die Leiche ab."
 "Klassischer Fall."
 "Wir warten auch noch aus einem anderen Grund. Sie wollen ihm noch 
          ein paar Fragen stellen. "
 "Werden sie ihn wieder foltern?" "Ohne Zweifel."
 Sie nahmen die Instrumente aus einer Schublade.
 "Wir geben ihm eine örtliche Betäubung. Er hat das Bewusstsein 
          verloren, aber er ist nicht im Koma, also wird er reagieren. Es gibt 
          keinen Grund, warum er noch mehr leiden soll."
 Sie arbeiteten eine knappe halbe Stunde. Zwölf Stiche. Dann packten 
          sie ihre Sachen. Der eine öffnete sein linkes Auge.
 "Nein, die ersten paar Tage wird er nicht zu uns zurückkehren."
 Sie verließen das Zimmer.
 Er hatte jetzt, nach der Betäubung, weniger Schmerzen. Er begriff 
          dass er zum Tode verurteilt war. An einem der Kittel hatte er den Namen 
          Marianne gelesen. Wusste, dass das der Name der Klinik war, in der er 
          lag. Er kannte sie. Todesklinik nannte man sie. Die letzte Etappe auf 
          der Reise in eine andere Welt. Sterbende, die nur noch Tage oder Wochen 
          zu leben hatten, wurden hier eingeliefert, damit ihre Schmerzen gelindert 
          werden konnten. Oftmals wurde ihnen mit einer Injektion auf den Weg 
          geholfen. Der berühmte Cocktail, der ihren Leiden ein Ende bereitete. 
          Euthanasie. Verboten. Aber toleriert.
 Er wusste jetzt, dass sie ihn wieder foltern würden. Und dass er 
          keine Chance hatte. Festgeschnallt, wie er war. Wo zum Teufel lag der 
          Fehler? Er hatte bei seiner Arbeit nichts Unbedachtes getan. War vorsichtig 
          gewesen. War behutsam vorgegangen. Hatte dafür gesorgt, dass nur 
          ganz wenige von seinen Untersuchungen wussten. Wenn er seine Karten 
          auf den Tisch legte, käme das einem Erdbeben gleich und würde 
          eine Reihe von Politikern und einige Topleute aus der Großfinanz 
          des Landes hinter Schloss und Riegel bringen. Irgendwo musste es eine 
          undichte Stelle geben. Aber wo? Er ging die ganze Sache nochmal durch. 
          Punkt für Punkt. Spulte das Geschehene wie eine Videokassette zurück. 
          Zurück bis zu dem Tag, an dem er seine Begrüßungsrede 
          vor hunderten von jungen, frisch eingestellten Polizisten gehalten hatte. 
          Er erinnerte sich an jedes Wort, das er gesagt hatte. Sah sich selbst 
          hinter dem Rednerpult im Vortragssaal der Polizeischule. Hatte sich 
          stolz gefühlt. Hörte sich selbst sagen:
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   "Ich heiße Tom Borg. Ich bin Divisionskommissar bei der dritten 
          Sektion der Mordkommission in Nizza."Vielen Dank an den Grafit Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Er ließ den Blick über die Versammlung schweifen. Im hinteren 
          Teil des Raumes bemerkte er einen Untersuchungsrichter, zwei Polizeikommissare, 
          seinen Assistenten Inspektor Clair, Oberstaatsanwalt Réel, den 
          Polizeipräsidenten sowie den Präsidenten des Schwurgerichts. 
          Feines Publikum, dachte er mit einem Lächeln. Fühlte wieder 
          den Stolz. Und fuhr fort: "Ihr habt Glück! Eure Kollegen im 
          Norden sind neidisch auf euch! Dreihundertvierzig Tage im Jahr bei Sonnenschein 
          arbeiten. Ihr könnt im Mittelmeer plantschen. Wenn es euch zu heiß 
          ist, fahrt ihr in die Berge und steht eine halbe Stunde später 
          auf Skiern. Ihr seid umgeben von Palmen, Zypressen, Pinienbäumen, 
          Olivenwäldchen und Mimosen. Grüne Weinberge schmücken 
          die Hügel. Ihr könnt in den Dörfern Pétanque spielen. 
          Gelbgrünen Pastis und kühlen Rosé trinken. Nehmt den 
          hellen. Der ist der beste."
 Vereinzeltes Gelächter.
 "Ihr werdet schnell kleine provenzalische Restaurants finden, die 
          noch nicht einmal den Schatten eines Touristen gesehen haben. Hier speist 
          man gut und billig. In der Sommersaison findet ihr am Strand schlanke 
          Pariserinnen umgeben von ihren rot gefleckten, dickbäuchigen Männern. 
          Ein Eldorado für einen jungen, durchtrainierten Polizeibeamten. 
          Im Juli und August gibt es Kultur satt. Konzerte mit Jazz und Klassik, 
          Rock und Techno, Schauspiel und Ballett, Gemäldeausstellungen mit 
          Vierecken
 und Dreiecken, es sei denn, der Künstler hat das Innere seiner 
          Seele nach außen gestülpt und Kreise gemalt. Wenn ihr nach 
          ein paar Jahren hier unten nicht ein hohes kulturelles Niveau erreicht 
          habt, dann seid ihr der Uniform nicht würdig! Während des 
          Filmfestivals in Cannes werdet ihr Schauspieler auf Stippvisite treffen, 
          eine Menge Fußballspieler watscheln den roten Teppich entlang, 
          gejagt von barbusigen Topmannequins sowie dem jeweiligen Kulturminister. 
          Dieselben trefft ihr in den Diskotheken in St. Tropez und Monte Carlo. 
          Auch den Kulturminister! Dazu noch eine Hand voll Prinzessinnen und 
          Prinzen sowie die kapitalistische Aristokratie. Ihr kommt überall 
          kostenlos rein. Zeigt einfach euren Dienstausweis mit der Trikolore. 
          Frau oder Freundin nehmt ihr mit. Ist doch klar, dass ein Polizist auf 
          Verbrecherjagd stets seine Sekretärin dabeihat. Auch wenn wir gar 
          keine Sekretärinnen haben."
 Gelächter.
 "Doch das weiß der Kontrolleur nicht. Tragt eure Waffe bei 
          euch. Es könnte ja sein, dass ihr über den Gangster stolpert, 
          den ihr angeblich jagt, während ihr Sting oder den Überlebenden 
          aus Count Basies Bigband lauscht.
 Natürlich habt ihr Glück!
 Auch weil ihr noch Frischlinge seid. Hier im Süden wird euch das 
          Füllhorn der Kriminalität auf einem goldenen Tablett serviert. 
          Zieht eine Linie von Marseille nach Nizza, mit kleinen Abstechern nach 
          Monte Carlo, Cannes, Toulon und St. Tropez. Vom kleinen Taschendieb 
          bis zur internationalen Topmafia wird alles an euren Nasen vorbeiparadieren. 
          Kein Ort in Europa ist so befallen, sagen wir ruhig: krank, wie der 
          französische Mittelmeerraum. Vergesst nicht, dass auch Gangster 
          Urlaub machen. Fahrt raus zum Cap Ferrat und ihr werdet die Topleute 
          der italienischen und russischen Mafia treffen, Politiker aller Nationalitäten 
          und internationale Kapitalisten im Großformat.
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