| Helsingør Leseprobe
Anno 1643
 
        Die alte Frau zwinkert einige Male mit den Augen und kneift sie dann fest 
        zusammen. Das Wasser in ihren Augen formt sich zu Tränen, die langsam 
        über ihre eingefallenen Wangen laufen und von dort aus auf das schmutzige 
        Umschlagtuch tropfen. Grelles Licht und alte Augen passen nicht zusammen.Die alte Frau sitzt lange so da. Dann öffnet sie die Augen wieder 
          und dreht mühsam den Kopf nach rechts. Sie hält Ausschau nach 
          etwas, von dem sie weiß, daß es irgendwo draußen in 
          dem weißen Lichtgewölbe liegt.
 Die Insel.
 Zu einer glanzvollen Zeit vor unzähligen Jahren hatte der Nabel 
          der Welt in einem schmucken Kleinod gelegen, einem roten Backstejnbau, 
          einem Schloß, das mit großer Hast und noch größerer 
          Ungeduld dort draußen errichtet worden war. Ein strahlendes, leuchtendes 
          Schloß hinter grünen Wällen ganz oben auf der Anhöhe 
          dort draußen auf der Insel.
 Der Scharlachinsel.
 "Scharlachinsel" ist der Name, den Seeleute der Insel Veflius 
          gegeben haben, ihrer Insel, die sich so wunderschön aus dem blaugrünen 
          Sund erhebt.
 Die Insel mit den gelben, sanften Hängen.
 Die Insel mit den blühenden Anhöhen und den üppigen Wiesen.
 Die Insel, auf der das Glück eine kleine Weile zu Hause war. Die 
        alte Frau schaut und schaut, aber sie sieht nichts, sieht nur das weiße, 
        gleißende Licht.In der Stadt heißt es, das Schloß sei fort, nicht ein einziger 
          Stein sei übriggeblieben. Weil die alte Frau sich nicht darauf 
          verlassen wollte, was die Leute redeten und raunten, hat sie sich selbst 
          nach dem Stand der Dinge erkundigt, bei einem Mann, der regelmäßig 
          dort draußen auf der Insel zu tun hat.
 Aber es stimmt. Das alles ist nicht gelogen.
 Das Wunderschloß wurde abgerissen, und alle Statuen sind fort. 
          Der Befehl dazu kam nicht von irgend jemandem, sondern von einer der 
          Mätressen Seiner Majestät. Das hat Frau Calumnia mit der gespaltenen 
          Zunge erzählt. Ob das stimmt, weiß niemand; richtig ist allerdings, 
          daß die schöne Dame die Insel als Nadelgeld erhalten hat.
 Es heißt außerdem, daß man die letzten der großen 
          Instrumente, die dort draußen zurückgelassen wurden, entzweigeschlagen 
          hat und daß die Überreste von streitbaren Bauern untergepflügt 
          wurden. Tief hinunter in den Boden, den sie sich verbissen zurückerobert 
          hatten.
 Sic transit gloria mundi!
 
 1
 
 "Hörst du das?"
 Nein, ich hörte nichts.
 "Carsten, hör doch. Es knackt."
 Ich konnte immer noch nichts hören, aber Annette blieb dabei.
 "Jetzt knackt wieder eine Stufe. Die dritte von oben." Sie 
          lauschte. "Ich bin mir ganz sicher. Einer von ihnen kommt herauf."
 Ich rutschte tief unter die schwere, lavendelduftende Steppdecke und 
          spürte, wie etwas eiskalt mein Rückgrat
 hochkroch Als es die Nackenwirbel erreicht hatte, fror es sie ein so 
          daß ich den Kopf nicht bewegen konnte.
 "Ich glaube, das ist Urgroßmutter, doch, ich kann es hören. 
          Sie geht viel langsamer als die anderen", klärte mich Annette 
          auf. "Hör selbst."
 "Urgroßmutter" war eines der drei Gespenster, von denen 
          meine Cousine behauptete, daß sie im Pfarrhaus unserer gemeinsamen 
          Großeltern spukten. Urgroßmutter war mit einem Hande1skapitän 
          verheiratet gewesen und hatte im Alter bei ihrer Tochter, der Pfarrersfrau, 
          gewohnt. Entweder hatte sie den Handelskapitän mit Rattengift umgebracht, 
          oder sie war selbst auf diese Weise aus dem Leben geschieden. Was genau 
          passiert war, wußte keiner, aber wir waren damals ganz sicher, 
          daß sie gespensterte.
 Das Pfarrhaus war ein alter Hof. Teile davon stammten aus dem siebzehnten 
          Jahrhundert, und alle Pfarrer, die seitdem der Gemeinde gedient hatten 
          und deren Namen auf der Tafel im Vorraum der Kirche aufgeführt 
          waren, hatten hier gewohnt. Familie auf Familie war eingezogen und wieder 
          ausgezogen - Kinderschar auf Kinderschar war hier zur Welt gekommen, 
          Freud und Leid, eitel Wonne und böse Schikanen hatten einander 
          abgelöst, all die Zeiten hindurch, die mir damals vorkamen wie 
          eine unendliche Ewigkeit.
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Meine Cousine brachte mich dazu, Gespenster zu hören, gesehen habe 
          ich keine. Sie dagegen schon. Jedenfalls sagte sie das. Besonders angetan 
          hatte es ihr ein Gespensterkind, das ihr erschien, wenn sich ein Gewitter 
          zusammenbraute. Es war ein Junge, merkwürdigerweise in meinem Alter, 
          den eine Dienstmagd irgendwann Anfang des achtzehnten Jahrhunderts erwürgt 
          hatte. Die Magd war anschließend auf dem Richtplatz in der Nähe 
          des Dorfes geköpft worden. Diese Geschichte fanden wir beide gruselig, 
          ja die gruseligste von allen.Danke an den dtv Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Man beachte das Wort "gruselig". Dieses Wort ist wichtig an 
          dieser Stelle, denn es ist ein Wort mit vielen Schattierungen. Vielleicht 
          nicht für alle, aber für mich. Wenn es in mir auftaucht, höre 
          ich ein Echo von all den Malen, die ich als Junge Angst hatte. Nicht 
          nur wenn meine Cousine mit ihrer hellen, etwas schneidenden Stimme von 
          den Gespenstern erzählte, von ihrer Natur und ihren Gewohnheiten 
          - keine Ahnung, woher sie das wußte - sondern auch wenn 
          mein Vater mir laut vorlas. Die schrecklichsten, und das bedeutete natürlich 
          auch, die besten Geschichten waren Grimms Märchen. In denen lauerten 
          Schrecken und "Grusel" an allen Ecken und Enden.
 Wir besaßen eine sehr alte und sehr zerlesene Ausgabe der Märchen. 
          Mein Vater hatte sie zu seinem siebten Geburtstag erhalten, und auch 
          er hatte sie geliebt. Sie war zerlesen, aber nicht zerfleddert, als 
          wir damit begannen. Hinterher hing kein Blatt mehr mit einem anderen 
          zusammen.
 Wenn ich an Grimms Märchen denke, höre ich Vaters Stimme. 
          Er machte sie tiefer, als sie von Natur aus war, und er gab ihr auch 
          einen leicht hohlen Unterton. Und wenn er den anschlug, spürte 
          ich, wie die Kälte mein Rückgrat hochzukriechen begann. Das 
          Gefühl fing immer in den Lenden an und krabbelte langsam hoch, 
          bis es in meinem Genick saß und wie gesagt dafür sorgte, 
          daß ich so gut wie gelähmt war.
 Die Frostschauer wurden noch eisiger, wenn wir zu den Illustrationen 
          kamen. Besonders eine ließ die Kälte direkt in mein Genick 
          springen.
 Sie zeigte einen Mann, der an einem Galgen hing. Ein Gehenkter, der 
          im Nachtwind hin und her schaukelte. Etwas Schlimmeres gab es nicht. 
          Es sei denn das Bild von einem siebenköpfigen Drachen, der einen 
          Mann zu fressen versuchte, aber dieser wollte lieber die Köpfe 
          abschlagen als von ihnen verschlungen werden. Er hatte bereits einige 
          abgetrennt, und das Allerunheimlichste an dem Bild waren die kopflosen, 
          nackten Hälse, die sich ihm entgegenwanden. Sie waren noch unheimlicher 
          als die Köpfe, die weiterhin an ihrem Platz saßen und aus 
          deren Rachen Feuer schoß wie aus einem Flammenwerfer.
 Meine Mutter hatte meinem Vater verboten, mir die Bilder zu zeigen: 
          "Der Junge kriegt doch Alpträume davon, laß es sein", 
          sagte sie, aber er lachte nur und meinte, in dem Alter müsse ich 
          ein Kilo Dreck und eine gute Portion Gruselgeschichten vertragen können. 
          Sonst würde ich nie ein richtiger Mann werden.
 Vielleicht sind es Erlebnisse dieser Art, die wirklich etwas aus Kindern 
          machen. Und obwohl ich von Galgen und Gehenkten und von nackten, kopflosen 
          Drachenhälsen träumte, bin ich doch froh darüber, daß 
          mein Vater mir vorgelesen hat. Das gehört wirklich zu den schönsten 
          Erinnerungen meiner Kindheit. An die Geschichten meiner Cousine erinnere 
          ich mich auch. Ich glaube, ich habe sie genauso geliebt.
 
 Wenn ich hier sitze und über meine Cousine plaudere, über 
          ihre Begeisterung für Gespenster und darüber, daß mein 
          Vater mir aus einer alten Märchensammlung vorgelesen hat, dann 
          hat das seinen Grund in der Geschichte, die ich nun berichten will. 
          Ich selbst mag diese Geschichte nicht, aber als ich anfing, sie aufzuschreiben, 
          glaubte ich plötzlich wieder die Stimme meiner Cousine Annette 
          zu hören, und sie sagte genau dasselbe wie damals in dem alten 
          Pfarrhof auf Falster - daß dies hier wahrhaftig eine gruselige 
          Geschichte ist.
 Ich habe lange überlegt, ob ich sie berichten soll, und wenn ich 
          mich dazu durchgerungen habe, es zu tun, dann deswegen, weil ich meiner 
          Ansicht nach dazu gezwungen bin. Das ist nicht nur eine Phrase, sondern 
          es ist so. Ich bin dazu gezwungen.
 Es gab mehr Kontra als Pro, um einmal den alten juristischen Ausdruck 
          zu gebrauchen. Man soll nicht mit Dingen an die Offentlichkeit treten, 
          die dem Privatleben vorbehalten sind, aber an dieser Sache war etwas, 
          das mich wurmte.
 Es hat mich gewurmt und wurmt mich immer noch, daß ich nicht gleich 
          begriffen habe, was los war. Denn eigentlich hat Lina mir davon erzählt. 
          Manchmal rief sie mich an und redete gleich los. Schnell und so hektisch, 
          daß mir im nachhinein klar wurde, wie nervös und verängstigt 
          sie gewesen sein muß.
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