Seit fast zwei Jahren wachte Dan zum ersten Mal wieder in seinem 
        Elternhaus auf. Er dachte an dieses Haus immer als an sein Elternhaus, 
        obwohl er und auf jeden Fall Jakob dort länger allein gewohnt hatte als 
        zusammen mit den Eltern. Die Schlafzimmer der Brüder lagen im ersten Stock, 
        aber Dan verbrachte die erste Nacht unten im Wohnzimmer, er wollte Platz 
        genug haben. Die KoskenkorvaFlasche stand vor ihm auf dem Tisch, aber 
        er brachte es nicht über sich, den Verschluss abzudrehen. Er hatte ferngesehen, 
        bis das Gesicht seines Bruders undeutlich wurde, und dann hatte er sich 
        auf dem Sofa unter einer Decke zusammengerollt.
        
        Zuerst durchsuchte er das ganze Haus. Die offensichtlichen Stellen, aber 
        auch Stellen, die er und der Bruder benutzt hatten, wenn etwas vor den 
        Eltern versteckt werden sollte. Die Nachttischschublade, die Kasse im 
        Besenschrank, das lose Brett unter der Treppe und das Cover der ersten 
        Ramones-LP. Er fand nichts, was ihm hätte erzählen können, warum sein 
        Bruder in einer ganz normalen Dienstagnacht in den Keller gegangen war, 
        um einen Trichter in den Gartenschlauch zu stecken und dann fast eine 
        ganze Rolle Klebeband zu verbrauchen, bis der selbstgebastelte Schnorchel 
        am Auspuffrohr festsaß. Dan hätte gern gewusst, ob Jakob unten im Keller 
        in Eile gewesen oder auf seine langsame, methodische Weise vorgegangen 
        war, die Dan bei gemeinsamen Unternehmungen so geärgert hatte.
        
          Der Keller, ja, feucht und dunkel. Ein Ort, an dem der Bruder als Kind 
          nicht gern gewesen war, er hatte geglaubt, es gebe dort einen Eingang, 
          der zu Herodes, Saulus, Judas Ischariot und allen anderen bösen Männern 
          aus der Bibel führte. Den bösen Männern, die die Mutter jeden Sonntag 
          am Flanellgraph befestigte. Manchmal, unter dem Vorwand, dass er Limonade 
          oder Schokolade bekommen sollte, konnte er den Bruder trotzdem nach 
          unten locken. Er wusste nicht, warum, aber seine Brust schien überzulaufen, 
          wenn er das Licht ausschaltete und Jakob losschrie. Er hatte dann das 
          Gefühl, mutig zu sein, unüberwindlich, alles unter Kontrolle zu haben. 
          Als Dan sich jetzt vom Sofa erhob, fragte er sich, ob Jakob jemals so 
          weit gekommen war - mehrmals oder nur dieses eine Mal -, dass er das 
          Licht gelöscht hatte, so dass er der Herr der Lage war. Es war kalt 
          im Haus, in der Küche nur dreizehn Grad, und er machte Feuer in zwei 
          der Holzöfen im ersten Stock. Er hatte erbärmlich geschlafen, aber trotzdem 
          hatte er die Tür zum Gang nicht geschlossen. Dan brachte es nicht über 
          sich, sich in einem Raum mit geschlossenen Türen aufzuhalten. Er stand 
          in die Decke gewickelt da und rauchte, und dabei ließ er Leitungswasser 
          in ein Glas laufen. Im Thermometer vor dem Fenster kroch das Quecksilber 
          abwärts auf die Fünfzehn zu, und noch immer qualmten die Reste des Feuers 
          auf dem Hofplatz. Dan wünschte sich, er hätte seine Taschen bereits 
          gepackt, stünde mit der Fahrkarte in der Hand da. Wohin, spielte keine 
          Rolle, nur weg, nur warm. In all den Monaten im Gefängnis hatte er von 
          einem Fenster geträumt, aus dem er schauen könnte, einem Ort, an dem 
          sein Blick haftete. Jetzt zogen die Felder sich unterhalb des Hauses 
          dahin, aber die Aussicht wurde überschätzt. Was sollte er jetzt damit? 
          
        
          
          Er konnte kaum auf den Hofplatz hinausschauen, ohne dass ihm schwindlig 
          wurde. Wenn er nun den Bruder am Tag seiner Entlassung noch angerufen 
          hätte und hergekommen wäre? Zufälle und Schicksal machten immer einen 
          Teil des Lebens aus, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Jakob 
          sich in den Hiace gesetzt hätte, während er selbst im Haus schlief. 
          Er konnte einfach nicht glauben, dass der Bruder auch dann den Schlauch 
          ins Auto gezogen, das Fenster geschlossen und den Zündschlüssel umgedreht 
          hätte. Nicht der Bruder, den er gekannt hatte, nicht der Bruder, der 
          niemals schlafen ging, ohne gute Nacht zu wünschen.
        
        Dan griff nach dem Telefon und rief die Lokalzeitung an. Trug den Anzeigentext 
        vor, den er sich ausgedacht hatte. Er konnte den Hiace nicht mehr draußen 
        auf dem Hofplatz stehen sehen, und er hatte soeben eine dreimalige Wiederholung 
        der Anzeige in Auftrag gegeben, als an die Tür geklopft wurde. Das Transistorradio 
        auf der Fensterbank sonderte schnarrend alte schwedische Popnostalgie 
        ab, und er hatte niemanden kommen sehen, hatte kein Auto gehört. Jetzt 
        sah er jedoch einen weißen Volvo, der fast mit den Schneewehen auf dem 
        Hofplatz verschwamm. Der Wagen stand so, dass er für Hiace und Amazon 
        die Ausfahrt versperrte. Dan glaubte nicht, jemanden mit einem solchen 
        Wagen zu kennen.
        
        Er öffnete die Tür und wich unwillkürlich zwei Schritte zurück, als er 
        Rasmussen vor sich sah. Hinter ihm stand ein uniformierter Polizist, den 
        Dan noch nie gesehen hatte. »Jan Kaspersen?«, fragte Rasmussen mit seiner 
        üblichen belegten Stimme, die er besaß, seit ein widerstrebender angehender 
        Häftling in Kongsvinger ihn mit einem Schraubenschlüssel am Adamsapfel 
        getroffen hatte. Dan schaute kurz zum Waldrand hinüber. Über den Hügeln 
        starrten die weißen Himmelsränder blind zurück. Im Laufe des Tages würde 
        es noch einige Grad kälter werden.
        
 »Ja, fast - genau wie damals, als du mich zuletzt gefragt hast, heiße ich Dan, nicht Jan. Und die Fahrt hättest du dir sparen können. Der Lensmann war schon hier, um seine Ermahnungen loszuwerden.« 
        
                  
                  
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Dan trat hinaus auf die Treppe und zog die Haustür hinter sich zu. Wieder 
        fielen ihm Rasmussens Augen auf. Sie hatten die gleiche Farbe wie die 
        eines sibirischen Husky, und immer waren sie leicht aufgerissen, als mache 
        es dem Kommissar Probleme, seinen Blick zu fixieren.
        
 »Wir möchten dich bitten, mit zur Wache zu kommen«, sagte Rasmussen, und der Polizist hinter ihm trat einen Schritt vor, so dass sie nebeneinander auf der Treppe standen. Dan zog den neuen Tag tief in die Lunge, behielt ihn dort und sehnte sich plötzlich danach, lange am Küchentisch zu sitzen, nach tausend Orten, die er aufsuchen könnte, ohne es damit jedoch eilig zu haben. 
        »Muss das wirklich sein, kannst du nicht einfach sagen, was du von mir 
        willst?«, sagte er und ließ pfeifend die Luft aus seinem Mund entweichen. 
        Der eine Eckzahn jaulte auf, und er versuchte sich zu erinnern, wann er 
        zuletzt beim Zahnarzt gewesen war.
        
 »Es wäre uns lieber, du kommst mit«, sagte Rasmussen, und diesmal klang es nicht mehr wie eine Bitte.
          
        Danke an die Droemer Knaur Verlagsgruppe für die Veröffentlichungserlaubnis.