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        Ich hatte immer schon ein gutes Geruchsgedächtnis.Noch nach Jahren kann ich mir den Duft eines Ortes oder eines Menschen in Erinnerung rufen. Wenn ich an den Frühling denke, fällt mir das lockende Aroma der feuchten Erde ein, den Herbst erkenne ich am schweren, melancholischen Dunst des nassen Laubs.
 Bei Ostwind stieg von der Abraumhalde des Bergwerks, die von allen Plörre
        genannt wurde, der bittere Geruch von Schwefel und Kupfer auf und legte
        sich über Arpikylä. Keine Frage, ich war wieder in meiner Heimatstadt,
        die ich mit neunzehn, vor gut zehn Jahren, hinter mir gelassen hatte.
        Als ich noch hier lebte, hatte ich den Geruch kaum wahrgenommen. Damals
        war mir auch nicht aufgefallen, wie majestätisch der graue, steinerne
        Turm das Profil der Stadt beherrschte. Als ich jetzt die Hauptstraße
        entlangging, hing der Turm über der Stadt wie ein großes graues
        Gespenst, gleichzeitig schwerelos und bedrückend.
 Der Hügel, auf dem er stand, glänzte kupfern; die leuchtende
        Farbe unterstrich die drohende Finsterkeit des Turms. Ich konnte nicht
        anders - ich musste den Blick abwenden, den klaren Himmel anschauen und
        die grünenden Birken unterhalb des Hügels. Und mich fragen,
        was in aller Welt mich hierher zurückgeführt hatte. Ich hatte
        sogar schon angefangen, mich in Arpikylä einzugewöhnen. Ich
        war ja nicht für immer zurückgekommen, nur für ein halbes
        Jahr, und davon hatte ich die ersten zwei Monate schon hinter mir. So
        allmählich gewöhnte ich mich daran, dass das Leben mich ohne
        Vorwarnung von einem Ort an den nächsten warf. Vor gut einem Jahr
        hatte ich das Juraexamen abgelegt und in einer kleinen Anwaltskanzlei
        in Tapiola einen Job gefunden. Anfangs ließ sich alles ganz gut
        an, aber nach und nach kamen mir die Vorgänge in der Kanzlei immer
        verdächtiger vor. Während des Weihnachtsurlaubs hatte ich beschlossen,
        risikofreudig zu sein und zu kündigen, aber gerade da bekam der Chef
        und Hauptteilhaber einen Herzinfarkt und starb.
 Bei der Nachlassabwicklung stellte sich heraus, dass die Kanzlei konkursreif
        war. Die Firma wurde verkauft, und ich stand mit einer Kündigung
        und ein paar Monatsgehältern Abfindung da. Einen neuen Job zu finden
        schien unmöglich. Ich hatte sogar meinen Stolz geschluckt und bei
        meinem früheren Arbeitsplatz, dem Dezernat Gewaltkriminalität
        bei der Kripo in Helsinki, angerufen - ich bin nicht nur Juristin, sondern
        auch Kriminalhauptmeisterin -, aber dort war natürlich nichts frei,
        im Gegenteil, das Dezernat sollte abgebaut werden. Auch alle anderen Versuche
        schlugen fehl.
 Mein Leben hatte keinen Fixpunkt, denn zu allem Überfluss war mein 
        Freund Antti gerade für ein knappes Jahr nach Chicago gegangen, um 
        dort nach seiner Promotion wissenschaftlich zu arbeiten. Ich hing trübselig 
        in Anttis Wohnung herum, die mir schrecklich leer vorkam, und verbrachte 
        die Hälfte des Tages beim Sport, die andere Hälfte mit Lesen. 
        Durch die Kneipen zog ich auch viel zu oft. In meiner Verzweiflung spielte 
        ich sogar mit dem Gedanken weiterzustudieren. Da mir nichts Besseres einfiel, 
        hatte ich beschlossen, von meinem letzten Geld für einen Monat nach 
        Chicago zu fliegen. Das bedeutete natürlich, dass mir erst mal das 
        Arbeitslosengeld gestrichen wurde. Am Tag vor dem Abflug rief Jussi Rantanen 
        an, der Ortspolizeidirektor von Arpikylä.Er erklärte, er wolle endlich sein Jurastudium abschließen
        und brauche für ein paar Monate eine Vertretung. Jussi Rantanen und
        meine Eltern gehören zu den Stützen des Kammerchors von Arpikylä.
        Infolgedessen war die arbeitslose Tochter des Ehepaars Kallio nach Ansicht
        von Ortspolizeidirektor Jussi die passende Kandidatin für die Vertretung.
        Ich wusste nur zu gut, dass ich Ende September die nächste Rate meines
        Studiendarlehens zurückzahlen musste. Der Ortspolizeidirektor in
        meiner Heimatstadt konnte nicht so wahnsinnig viel zu tun haben, dachte
        ich. Irgendeine Bude würde ich wohl auch finden - bei meinen Eltern
        zu wohnen wäre mir nicht im Traum eingefallen, und ich glaube auch
        nicht, dass sie das gewollt hätten. Ich bat mir ein paar Wochen Bedenkzeit
        aus. Schließlich rief ich Jussi von Chicago aus an und sagte zu,
        obwohl Antti skeptisch war. »Du behauptest doch immer, du hasst die Stadt.
        Was treibt dich jetzt plötzlich dahin?« »Ein halbes Jahr lässt
        es sich überall aushalten. Und ein paar nette Leute wohnen da immerhin
        auch. Ella, meine beste Schulfreundin, ist Kulturdezernentin. Und Koivu
        arbeitet ja inzwischen in Joensuu, das ist bloß eine halbe Stunde
        von Arpikylä.« Natürlich gab es noch andere Gründe für
        meine Zusage. Dass ich bald dreißig wurde, brachte mich irgendwie
        dazu, nach meinen Wurzeln zu suchen. Vielleicht wollte ich deshalb für
        eine Weile zurück nach Arpikylä. Arpikylä - das Narbendorf.
        Der Name war absurd. Man behauptete, er wäre von den wundenartigen
        Rändern und der schorfbraunen Farbe der Erzschicht unter dem alten
        Bergwerkshügel abgeleitet. Ein Schulfreund von mir, der die Stadt
        hasste, hatte immer erklärt, der Name käme daher, dass keiner
        dort leben konnte, ohne Narben davonzutragen. Natürlich war es ein
        trostloser Ort, wie jede Kleinstadt, die um einen einzigen Betrieb gewachsen
        ist. In meinem ersten Jahr auf der Polizeischule hatte ich grinsend gelesen,
        dass Arpikylä von den Lesern einer Illustrierten auf die Liste der
        zehn ödesten Städte Finnlands gesetzt worden war. Nie wieder
        zurück, hatte ich mir geschworen. Es hatte natürlich einen gewissen
        Schick, aus Arpikylä zu stammen. Es klang interessanter als Hyvinkää,
        Loimaa oder Kokemäki, irgendwie härter.
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Maria Kallio aus Arpikylä, dem Wilden Osten Finnlands. In den letzten
          Jahren hatte die Stadt versucht, sich ein neues, freundliches Image zuzulegen.
          Das Motto dieser Kampagne klang allerdings ziemlich krampfig: Arpikylä
          - die Stadt mit dem Kupferherz. Dabei waren die Erzvorkommen, denen die
          Stadt ihre Existenz verdankte, seit Jahren erschöpft.Danke an den Ariadne Krimi Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Vom Turm her war ein immer schneller wiederholtes Warnsignal zu hören.
          Ich sah besorgt hinüber. Sie würden doch wohl nicht den Turm
          zum Einsturz bringen? Ich wusste zwar - schließlich hatte ich selbst
          die Genehmigung erteilt -, dass nur eine kleine Sprengung in ziemlicher
          Entfernung vom Turm vorgesehen war, aber ich konnte nicht anders als stehen
          zu bleiben und mich zu überzeugen, dass der graue Alte den Anprall
          überstand. Links hinter dem Turm stieg eine winzig kleine Staubwolke
          auf, als auch schon das gleichmäßige Entwarnungssignal ertönte.
          Der neue Pächter des Alten Bergwerks setzte die Ausfahrt für
          die Touristenführungen durch die Stollen instand. Nächsten Freitag
          sollte das Gelände eröffnet werden. Ich winkte dem Turm zu,
          bevor ich mich auf den Weg zum Polizeirevier machte. Er winkte nicht zurück,
          sondern starrte mich böse an: Wie konnte ich mir einbilden, so ein
          kleiner Knall würde ihm etwas anhaben? Einen Moment lang erschien
          mir der Turm geradezu Furcht erregend; er führte das Kommando, er
          warf lange, dunkle Schatten über seine Umgebung. Noch beim abendlichen
          Jogging hatte ich das Gefühl, der Turm wachte über meine Schritte.
          Ich hatte mir vorgenommen, während meiner sechs Monate in ländlicher
          Umgebung gesund zu leben: viel Sport, viel Schlaf, viel Gemüse und
          unter der Woche höchstens ein Bier pro Abend. Das gesunde Leben zahlte
          sich aus, das Laufen fiel mir neuerdings so leicht, dass ich mit dem Gedanken
          spielte, im August am Helsinki City Marathon teilzunehmen. Koivu hatte
          mir erzählt, dass die Polizeibehörde in Joensuu eine Mannschaft
          aufstellte, vielleicht konnte ich mich da anschließen ... Nach einem
          Blick auf die Uhr zog ich das Tempo an.
 Ich hatte beim Weggehen die Sauna angeheizt, denn ich hatte nur sechs
          Kilometer laufen wollen. Jetzt waren es schon acht, und für den Rückweg
          nach Kuusikangas würde ich noch zehn Minuten brauchen. Bestimmt war
          das Feuer bis dahin längst ausgegangen. Mein Herzschlag war doppelt
          so schnell wie der Rhythmus des Simon & Garfunkel-Songs in meinem Walkman.
          Ich mochte aber nicht anhalten und das Band vorspulen. Dieser Teil der
          Waldstrecke war mir immer unheimlich gewesen; hinter den schwarzgrünen
          Kiefern konnte sich alles Mögliche verbergen. Auch das ferne Motorengeräusch
          klang bedrohlich.
 Ein Nissan mit lädiertem Auspuff tauchte auf dem Hügel hinter
          mir auf, knatterte vorbei und bremste plötzlich. Als der Fahrer die
          Tür aufstieß, war ich drauf und dran kehrtzumachen. Die untergehende
          Sonne hinter den Kiefern spiegelte sich in der Tür und blendete mich,
          so dass ich das Gesicht des Fahrers nicht gleich sah.
 »Maria!«
 Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Ich lief zum Auto. Auf halbem
          Weg begriff ich plötzlich, dass der Mann dort Johnny war. Ich verfluchte
          meine zerschlissene Jogginghose, mein schweißnasses Gesicht und
          meine zerzausten Haare. Beim ersten Wiedersehen mit Johnny nach fünfzehn
          Jahren hätte ich es vorgezogen, möglichst toll auszusehen.
 »Ja, ich bin?s«,
 sagte ich gewollt unbefangen, obwohl die Hand, die ich Johnny entgegenstreckte,
          zitterte.
 »Ich hab schon von deiner Mutter gehört, dass du hier arbeitest.
          Ich hatte vor, irgendwann mal vorbeizuschauen.«
 Einen Moment brachte ich kein Wort heraus, guckte ihn nur an. Johnny war
          immer noch göttlich schön, genau wie damals, als ich fünfzehn
          war. Eigentlich sah er jetzt noch besser aus. Sein Adoniskörper war
          so muskulös wie früher, aber in das fast zu perfekte Gesicht
          des schönen Jungen von damals hatten sich ein paar Falten eingegraben,
          die ich sehr sexy fand.
 »Ich mache die Vertretung für den Ortspolizeidirektor und wohne in
          Onkel Penas Haus in Kuusikangas. Und du?«,
 fragte ich, als wüsste ich es nicht längst.
 »Bist du Sportlehrer geworden?«
 »Ja, schließlich hab ich mich dann doch dafür entschieden.
          Die letzten paar Jahre war ich an der Schule in Tuusniemi, jetzt hab ich
          hier eine Stelle gekriegt. Tuija und ich haben geheiratet, vor zehn Jahren,
          wir haben zwei Kinder, und seit einem halben Jahr leben wir getrennt.«
 Johnny lächelte schwach.
 »Wohnt ihr ... wohnst du hier?«
 Ich bemühte mich um einen gleichgültigen Ton und strich mir
          die roten Haare aus dem Gesicht.
 »Wir haben ein Haus in Kyykeri, aber da bin ich im Frühjahr ausgezogen.
          Die Sommerferien über wohne ich mal hier, mal da, meistens bei meinen
          Eltern in Sysmäjärvi. Anfang August kriege ich dann eine Dienstwohnung.
          Ich hab ja jetzt eine feste Anstellung. Tuija hat schon seit fünf
          Jahren ihre Praxis hier. Du hast sicher gehört, dass sie Zahnärztin
          geworden ist?«
 Ich nickte. Es kam mir seltsam vor, dass Johnny so unbefangen plauderte,
          als hätten wir uns bloß ein paar Wochen nicht gesehen. Vielleicht
          war das Wiedersehen für ihn nichts Besonderes.
 »Willst du ein Stück mitfahren? Ich hol die Kinder ab, sie sind bei
          Tuijas Eltern im Sommerhaus, und Kuusikangas liegt am Weg.«
 »Danke, aber ich lauf noch ein bisschen. Aber wenn du mal in der Nähe
          bist, dann komm vorbei, du kennst das Haus ja. Wär schön, sich
          in aller Ruhe zu unterhalten.«
 Johnny versprach, sich vielleicht bei Gelegenheit mal blicken zu lassen.
          Ich setzte mich wieder in Trab, und bald darauf knatterte der Nissan an
          mir vorbei. Ich rannte in der Staubfahne, die er hinter sich herzog, und
          mein Herz schlug viel schneller als bei diesem Tempo zu erwarten. Meine
          Beine waren wie Pudding, ein Wunder, dass ich überhaupt noch fähig
          war zu laufen. In den vergangenen Jahren hatte ich oft darüber nachgedacht,
          wie ich reagieren würde, wenn Johnny plötzlich vor mir stünde.
 Allerdings hatte ich nicht erwartet, rot zu werden wie ein Teenager. Bestimmt
          hatte ich eben völlig blöd ausgesehen. Verdammt, erst vorletzte
          Nacht hatte ich wieder von Johnny geträumt. In den letzten fünf
          Jahren hatte ich regelmäßig mindestens einmal im Monat solche
          Träume. Beim Erwachen kam ich mir dann immer wie gedemütigt
          vor - es lag doch alles schon fünfzehn Jahre zurück, warum kam
          ich von diesem Phantasie-Johnny nicht los? In meinem letzten Traum waren
          wir uns in der Sportabteilung im Kaufhaus begegnet. Ich hatte mir Fußbälle
          angesehen, als Johnny mich plötzlich bei den Armen packte und anfing,
          mich zu küssen.
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