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"Hast du schon mal eine Vulva mit beschnittener Klitoris gesehen?"Das lateinische Wort irritierte mich, während es gleichzeitig - auf 
        unerklärliche Weise - der Frage einen Anstrich von Anständigkeit 
        gab. Ich vermutete, daß der Mann Arzt war, vielleicht Professor. 
        Bei "Vulva" denke ich immer an ein Tier oder an irgendeine (religiöse?) 
        Gestalt aus dem Mittelalter.
 "Nein. Und Sie? Wenn Sie schon fragen?"
 "Es kommt mir einfach so vor, als könnte man die alten Vergleiche 
        nicht benutzen, wollte man eine solche Vulva beschreiben."
 Während er das sagte, kletterte oder sprang sein Blick die Fassade 
        des Regierungsgebäudes hinauf, ruckweise, als spiele er
 Chinaschach und als seien die leuchtenden Fenster die Steine des Gegners. 
        (Tatsächlich stand er da und kippte den Kopf von einer Seite zur 
        anderen.) Ganz oben wurde daran gearbeitet, dem ursprünglichen Betonkoloß 
        zwei weitere
 Etagen hinzuzufügen. Ich hatte in der Zeitung davon
 ge1esen empfand aber trotzdem eine seltsame 
 Freude darüber, 
        es zu sehen, und aus solcher Nähe.
 Ein Kranarm schwebte über der Kante, und wir hörten ein Geräusch 
        wie von einem Maschinengewehr. Ich habe keine Ahnung, was es war, aber 
        es klang wie ein Maschinengewehr.
 "Wer gebraucht Vergleiche auf einem solchen Gebiet?" sagte ich.
 "Schriftsteller vielleicht. Denk nur an dieses abgedroschene Bild 
        von der Perle in der Muschel." Ich sah sein Gesicht nicht, doch die 
        Stimme mochte darauf hindeuten, daß er lächelte.
 "Ich muß zugeben, ich habe nie daran gedacht. Soviel ich weiß, 
        könnte das ein 
entscheidender Anblick sein."
 "Einmal hab' ich den Schwanz eines Juden gesehen."
 Der Mann verwirrte mich wieder. Die Inkonsequenz im Sprachgebrauch."Beschnitten?"
 Er sah mich an, als sei ich nicht gescheit. "Alle männlichen 
        Juden sind beschnitten", sagte er.
 "Wo haben Sie das gesehen?"
 Im nachhinein: Warum habe ich gefragt? Warum war ich - wenn ich ehrlich 
        sein soll - völlig bei der Sache? Oder, interessanter: Warum passierte 
        das alles überhaupt?
 "In Norwegen", sagte er zunächst, als treffe man Juden 
        sonst nur im Ausland. Dann: "In der Schule."
 Wir spazierten weiter. Die Hauptfeuerwehrwache rechts, die Öffnung 
        zum Arne Garborgs plass links. Genau hier stellte sich das erste Staunen 
        ein - ich könnte sagen: das erste Signal, daß ich unerwartet 
        im Begriff war, neue Kenntnisse zu erwerben. ("Kenntnisse" ist 
        möglicherweise das falsche Wort.) Ich entdeckte von diesem Winkel 
        aus (und warum sah ich hinauf?), daß die Hauptfeuerwehrwache einen 
        Turm bat. Ich habe das Gebäude unzählige Male gesehen, das aber 
        nie bemerkt.
 Dann, wie ein Angriff aus dem Hinterhalt: Wußte ich, wie lang der 
        Penis des Blauwals ist?
 Er antwortete selbst, bevor ich mich vom Turm der Feuerwehrwache umstellen 
        konnte auf diese zoologische Kuriosität, oder als habe er geahnt, 
        daß ich mir dies nie vorstellen könnte: Zwei Meter siebzig!
 Wir begegneten drei Personen in gleichmäßigen Abständen. 
        Alle führten große Hunde spazieren. Drei Männer mit einem 
        langhaarigen Schäferhund
 beziehungsweise zwei Rottweilern; dunkle, drohende Schatten, Klauen, die 
        am Asphalt kratzten.
 Aber hatte ich es schon mal bei einem kleinen Mädchen gesehen?
 Was denn?
 Das Geschlechtsorgan.
 Ich war noch immer bei der Sache. Ich sehe keinen Grund zu leugnen, daß 
        ich mich sogar wohl fühlte. Daneben versuchte ich, das als relevante 
        Frage aufzufassen.
 Vielleicht. Doch, das hatte ich wohl.
 "Stell dir das Geschlechtsorgan eines Mädchens, eines Kleinkinds 
        vor. Augenblick mal... Eigentlich ist es phantastisch! Alles ist da. Diese 
        ornamentalen, symmetrischen Schichten von winzigen Lippen vor dem Scheideneingang
Ebenso 
        kompliziert wie bei einer Frau. Aber nur. . . nein, nicht als Knospe, 
        ganz aufgeblüht, aber kleiner. Ein architektonisches Meisterwerk 
        Als sehe man die Idee des Lebens im Keim. Oder als.., als Abstraktion!"
 Der Mann war eifrig.. . doch, das darf ich sagen. Eifrig. Er hatte eine 
        sehr tiefe Stimme, die mich an russische Priester erinnerte. (Ich habe 
        wohl zufällig gehört, wie einer mit denkwürdigem Baß 
        im Fernsehen die Messe las.)
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   "Ich habe mich oft dabei ertappt, daß ich die Vulva meiner 
          kleinen Tochter mit dem Umriß eines Tintenfischs vergleiche. Sieh 
          selber nach."Danke an den List Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis."Vulva" - jetzt klang es wie ein heiliges Wort. Ein Wort, das 
          Macht ausstrahlte, Kraft.
 Ich nickte, ich erinnerte mich nicht mehr, wie es aussah.
 "Wußtest du, daß die Lieblingsspeise des Pottwals Tintenfisch 
          ist?" sagte er mit seiner klangvollen dunklen Stimme. Mir war, als 
          spürte ich, wie sich die Frage von Mauer zu Mauer durch die Stadt 
          fortpflanzte. Dann war er still, als habe ihn dieser Gedanke auf die Spur 
          von etwas gebracht, wonach er lange gesucht hatte.
 Aus irgendeinem Grund hielt ich es für richtig, die Initiative zu 
          ergreifen: "Waren Sie schon in Montevideo?"
 Ich betrachte diese Frage als ein kleines Wunder. Wo kam Montevideo her? 
          Hatte irgend etwas in der Luft, eine Art Vibration, mein Gedächtnis 
          beeinflußt, oder, genauer gesagt: die Phantasie? Was in der Plauderei 
          über Genitalien führte zum Namen ausgerechnet dieser Stadt? 
          War es die Kollision zwischen dem Gedanken an Tintenfisch und dem Gedanken 
          an die griechisch-orthodoxe Kirche?
 "Nein, aber in Buenos Aires - übrigens auf einem Kongreß. 
          Das liegt ja gegenüber an derselben Bucht wenn du dir die Karte ansiehst."
 Welch ein Sprung. Und er machte mit, als sei es das Natürlichste 
          auf der Welt. Ich glaube ... ich bin ziemlich sicher, daß viel entschieden 
          wurde in diesem Augenblick.
 "Sie erwähnten eine Tochter ... Sie sind wohl verheiratet?" 
          Ich wollte nach dem Kongreß fragen, aber aus Gründen jenseits 
          meines Fassungsvermögens kamen diese anderen Worte plötzlich 
          aus meinem Mund. (Aus der zeitlichen Distanz: Wohin hätte uns eine 
          Frage nach dem Kongreß geführt?)
 Zum zweitenmal, erzählte er. Seine erste Frau war aus Chamonix, direkt 
          am Montblanc.
 War das wichtig? Ich meinte, daß sie aus einem Ort direkt am Montblanc 
          war?
 Nein. Es war ihm nur herausgerutscht.
 Ich erinnere mich, daß ich mir das merkte. Vielleicht sah ich ihn 
          jetzt auch zum erstenmal an, entdeckte ihn gleichsam im Haibdunkel unter 
          den Straßenlaternen; die hohe Stirn mit fast unsichtbarem Haaransatz, 
          im Profil merklich gewölbt. Mir fiel ein, daß er wie ein Fötus 
          aussah. Der gleiche Mangel an ausgeprägten Zügen.
 Auf der Brücke über die Henrik Ibsens gate blieb er stehen und 
          lehnte sich so weit hinaus, daß ich Angst bekam. "Wenn ich 
          jemals Selbstmord begehen wollte, wäre dies der Ort", sagte 
          er plötzlich. Er sah mir in die Augen. Ich dachte zunächst, 
          es sei
 Ich weiß nicht, warum, aber ich deutete es als einen verliebten 
          Blick.
 "Siehst du nicht die Schlagzeilen vor dir? Mann in der Henrik Ibsens 
          gate tot aufgefunden."
 "Ja?"
 "Klingt gut."
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