Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten, 
          als er den Hof erblickte. Oder zumindest einen Teil davon. Die Ställe 
          ließen sich hinter der schwarzen Silhouette der nackten Zweige 
          nur erahnen, doch das reichte aus, um seinen Herzschlag zu beschleunigen.
          Das Taxi bremste behutsam, bevor es auf den schmalen Kiesweg abbog, 
          der sich schnurgerade zwischen Weiden und frisch gepflügten Feldern 
          dahinzog.
          Er beugte sich hastig vor und klopfte an die Scheibe.
          »Stopp 
 halten Sie an!«
          Es war als Aufforderung gemeint, klang jedoch mehr wie ein Hilferuf. 
          Der Fahrer sah ihn im Rückspiegel fragend an. »Hier?«
          Er bekam seine Stimme wieder unter Kontrolle. »Ja, ich gehe das 
          letzte Stück.«
          »Aber Ihre Tasche 
 sie wird Ihnen auf dem Weg sehr schwer 
          werden.«
          »Ich gehe das letzte Stück«, beharrte er. Der Fahrer 
          hielt an und schaltete das Innenlicht ein. Sein Fahrgast nestelte an 
          seiner Brieftasche, doch seine Hände zitterten heftig, und mit 
          den Scheinen kannte er sich auch nicht aus.
          »Nehmen Sie sich den Betrag«, sagte er und gab dem Fahrer 
          sein Portemonnaie. Der Fahrer nahm drei Hunderterscheine heraus und 
          legte das Wechselgeld hinein. Dann stieg er aus und holte die Tasche 
          aus dem Kofferraum.
          Bevor er den Motor wieder anließ, fragte er mit besorgtem Unterton:
          »Soll ich Sie wirklich hier absetzen?«
          »Ich komme schon zurecht.« Der Fahrer warf nochmals einen 
          Blick auf die schwere Tasche, als wolle er sagen: Gib mir nicht die 
          Schuld, wenn du einen Herzschlag bekommst, Alter.
          Dann fuhr er davon.
          
          Sobald das Auto außer Hörweite war, brach die Stille über 
          ihn herein, drückte gegen sein Trommelfell, während die Konturen 
          der Landschaft deutlicher hervortraten. Dunkle, gezackte Fichten, nackte, 
          wellige Felder mit feucht glänzenden Ackerfurchen, steinige Koppeln 
          und Gehölze mit immer noch unbelaubten Bäumen. Dünne 
          Nebelschwaden trieben über den ausgebesserten Asphalt. Eine lautlose 
          Einsamkeit, von vereinzelten kalten Sternen bewacht.
          Die Kälte kroch ihm die Beine hinauf. Er nahm die Reisetasche, 
          klemmte sich die Aktenmappe unter den Arm und begann den Kiesweg entlangzugehen.
          Auf halber Strecke musste er stehen bleiben, um Atem zu schöpfen. 
          Er hörte ein dumpfes Schnaufen, das nicht von ihm kam, fuhr herum 
          und starrte in die Dunkelheit. Schwerfällige Schatten bewegten 
          sich gemächlich im Dunst hinter der Steinmauer, und er hörte 
          die beruhigenden Laute großer Wiederkäuer. Ein süßlich 
          stechender Geruch stieg ihm in die Nase und versetzte ihn um mindestens 
          fünfzig Jahre zurück. Kühe. Die hatte er schon lange 
          nicht mehr gesehen.
          Die verbleibende Wegstrecke zwischen den Bäumen lag nun fast in 
          völligem Dunkel, und die Kälte trieb ihn zur Eile an. An der 
          Giebelseite der Ställe betrat er den Hofplatz.
          Das Wohnhaus wurde von den frei stehenden Wirtschaftsgebäuden flankiert. 
          Alles war genauso großzügig angelegt, wie er es in Erinnerung 
          hatte. Den Ställen gegenüber lagen die Scheune sowie der Fuhrpark. 
          Auf der Suche nach bekannten Details versuchten seine Augen die Dunkelheit 
          zu durchdringen. Die große Rosskastanie, die mitten auf dem Hofplatz 
          gestanden hatte, war verschwunden. Ohne sie sah er merkwürdig kalt 
          aus. Vor der Scheune stand ein Traktor, vermutlich neueren Datums, jedenfalls 
          war er sauber. Das Haus hatte immer noch seine alte rote Farbe, die 
          in der Dunkelheit schwarz wirkte. Durch zwei Fenster des Wohnhauses 
          fiel ein grelles gelbes Licht auf den Kies, ansonsten schien der ganze 
          Hof wie in Schlaf versunken.
          Er wusste, dass hinter den erleuchteten Fenstern die Küche lag. 
          Er gab Acht, mit den Füßen keinen Kies aufzuwirbeln. Außer 
          einer Reihe von Küchenschränken war nichts zu erkennen. Doch 
          jetzt drangen leise Stimmen und Musik zu ihm nach draußen, vermutlich 
          von einem Fernseher.
          Am Rande der beleuchteten Fläche blieb er unschlüssig stehen. 
          Noch wussten weder er noch die da drinnen, wie der weitere Abend verlaufen 
          würde. In dieser Ungewissheit lag eine Freiheit, die er auskosten 
          wollte. Als er schließlich die entscheidenden Schritte machte 
          und an die Tür klopfte, waren seine Hände vor Nervosität 
          schweißnass. Sein Herz pochte heftig. Nichts passierte. Er klopfte 
          lauter und hörte drinnen jemanden rufen. Eine Frauenstimme. Dann 
          schwere Schritte, ehe die Tür sich öffnete. Ein groß 
          gewachsener, kräftiger Mann füllte die Türöffnung. 
          Sein Gesicht lag im Schatten. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
          »Leif?«, fragte er unsicher.
          In diesem Moment wurde die Lampe über der Treppe angeschaltet. 
          Er starrte gebannt in das Gesicht und sah seine Vermutung bestätigt: 
          Sein Gegenüber war das Abbild des Vaters. Eine Woge sentimentaler 
          Empfindungen verdrängte für einen Augenblick die Angst.
          »Erkennst du mich nicht?« Seine Stimme klang sonderbar dünn 
          und wacklig. Keine Antwort. Der andere schaute ihn unbeteiligt und abwartend 
          an.
          »Ich bins, Max«, sagte er und zeigte auf die Tasche, 
          als könnte die seine Behauptung bekräftigen. Der andere ließ 
          seinen Blick zur Tasche und wieder zurück wandern. Forschend, zweifelnd.
          Dann ein Ausdruck des Erstaunens, gemischt mit unverhohlenem Unbehagen. 
          Die Frauenstimme übertönte abermals die gleichmäßige 
          Geräuschkulisse des Fernsehers irgendwo im Haus. »Wer ist 
          denn da?«
          Es war eine kräftige Stimme, wenn auch ein wenig heiser und ungeduldig.
          Sie hatte sich seit fünfundvierzig Jahren nicht verändert.
          Der Mann im Türrahmen trat einen Schritt zur Seite und brummte 
          mürrisch: »Ist wohl besser, wenn du reinkommst.«
          Das erste Hindernis war überwunden. Mit einem kaum unterdrückten 
          Stoßseufzer der Erleichterung stellte er die Reisetasche unter 
          die Garderobe, hängte seinen Mantel auf und glättete seine 
          Haare. Die Aktenmappe hatte er immer noch unter den Arm geklemmt. Er 
          betrat die hell erleuchtete Küche, und der schwache Essensgeruch, 
          der in der Luft hing, machte ihn sofort hungrig. Er hatte seit Kopenhagen 
          nichts zu sich genommen und hätte schwören können, dass 
          es hier Fleischklößchen zum Abendessen gegeben hatte.
          In der Tür zu dem in Dämmerlicht liegenden Raum, der an die 
          Küche grenzte, stand eine weißhaarige Frau, klein und dürr, 
          aber mit geradem Rücken. Sie fixierte ihn mit verschränkten 
          Armen. Er ging rasch auf sie zu, streckte eine Hand aus und schlug einen 
          vertraulichen Ton an.
          »Gertrud! Erkennst du mich denn nicht? Ich bins, Max! Wie 
          lange ist das her?«
          Sie blinzelte ihn neugierig an und ignorierte seine ausgestreckte Hand. 
          Ihre gealterten Gesichtszüge zeugten von Selbstdisziplin. Oder 
          war es Gleichgültigkeit?
          »Ich dachte, du wärst schon lange tot«, sagte sie wenig 
          liebenswürdig.
          »Why 
 warum sollte ich 
?« Er lachte nervös 
          auf. »Ich bin nach Hause gekommen, um zu bleiben«, fügte 
          er beinahe flehentlich hinzu.
          »Hoffentlich nicht bei uns.« Es kam wie ein Peitschenhieb.
          »Nein, äh, in Schweden, meine ich.«
          »Aha
«
          
                  
                  
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»Es wurde mir da drüben zu einsam. Ich hatte das Gefühl, 
          dass ich zurückmusste«, sagte er ausweichend. Ihr unbarmherziger 
          Blick war an seiner Kleidung hängen geblieben, die sie schweigend 
          musterte.
          »Ich dachte, es wäre schön, dich 
 und den Hof 
          wieder zu sehen, nach
 all these years. Du siehst gut aus.«
          »Ich kann nicht klagen.«
          »Du wirkst wirklich keinen Tag älter als fünfzig«, 
          legte er sich ins Zeug.
          »Du schon«, entgegnete sie spitz.
          »Ja, ja, die Zeit
 time takes its toll«, sagte er gutmütig.
          »Bist du verheiratet?«, fragte sie unvermittelt.
          »Ich bin
 widower, meine Frau ist gestorben.«
          »Hm, du willst sicher eine Tasse Kaffee«, sagte sie ohne 
          jede Herzlichkeit und ging zum Herd.
          »Ja, das wäre schön«, sagte er mit neuer Hoffnung. 
          »Ich habe seit dem Flughafen in Kopenhagen nichts in den Magen 
          bekommen.« Er hoffte, diese Auskunft würde ein wenig Essbares 
          auf den Tisch zaubern, doch sie schien seinen Wink nicht verstehen zu 
          wollen. Während sie mit der Kaffeemaschine beschäftigt war, 
          schaltete sich der Mann, der die Tür geöffnet hatte, in das 
          Gespräch ein.
          »Du bist also mit dem Flugzeug direkt aus Amerika gekommen?«, 
          erkundigte er sich.
          Max drehte den Kopf und dachte, er sollte seine Bemühungen darauf 
          konzentrieren, den Sohn des Hauses für sich zu gewinnen.
          »Ja, stell dir vor«, sagte er lächelnd. »Gestern 
          war ich noch in New York, und heute bin ich auf Röshult. 52 
          war das Reisen noch eine ganz andere Sache. Da hing ich zwei Wochen 
          lang über dem Klo oder der Reling, um mich zu übergeben. Dass 
          ich dich sofort wiedererkannt habe! Du bist Vater wie aus dem Gesicht 
          geschnitten. Das habe ich schon damals gesehen, bevor ich 
 obwohl 
          du ja erst zwölf warst.«
          Das Gesicht des Bruders verfinsterte sich, und Max bereute, den Vater 
          überhaupt ins Spiel gebracht zu haben. »Was macht denn Birger 
          eigentlich?«, fragte er ausweichend. »Gehts ihm gut? 
          Wohnt er hier in der Nähe?«
          Gertrud stand am Küchentisch und klapperte mit den Kaffeetassen. 
          Ohne aufzublicken sagte sie: »Der wohnt in Malmö. Wir sehen 
          ihn nur selten.«
          Sie verzog den Mund, der bittere Unterton war ihm nicht entgangen. Offenbar 
          war auch dies ein heikles Thema. Doch er war noch nicht bereit, vom 
          eingeschlagenen Weg abzuweichen, und obwohl sein Lächeln bereits 
          krampfhafte Züge trug, fragte er forsch: »Mit dem Hof alles 
          in Ordnung?«
          Sie warf eine Packung Kekse auf den Tisch. »Wir kommen über 
          die Runden.«
          »Ihr habt mit der Aussaat begonnen?«
          Keine Antwort.
          Plötzlich fühlte er sich mutlos. Er war nicht willkommen und 
          fühlte sich ihrer Feindseligkeit hilflos ausgeliefert. Unaufgefordert 
          ließ er sich auf einen der Küchenstühle sinken und schaute 
          sich suchend nach einem Vorwand um, die sinnlose Plauderei fortzusetzen. 
          Er stellte fest, dass alles vorhanden war, was zu einer modernen Einrichtung 
          gehörte. Weder die Küche noch der Traktor vor der Tür 
          deuteten auf finanzielle Schwierigkeiten hin.
          »Hier hat sich in der Zwischenzeit ja einiges getan«, sagte 
          er vorsichtig.
          »Alles sieht so gepflegt aus.«
          Als auch auf diese Bemerkung niemand einging, fragte er Leif: »Bewirtschaftest 
          du den Hof ganz allein oder hast du Unterstützung?«
          Leif nahm ebenfalls auf einem der Stühle Platz und legte seine 
          kräftigen, behaarten Unterarme auf die Tischplatte. Ohne seinen 
          Gast eines Blickes zu würdigen, wandte er sich der dunklen Fensterscheibe 
          zu.
          »Ich habe keine Hilfe und ich brauche auch keine. Ich habe die 
          Produktion ziemlich runtergefahren, und mit dem Mastvieh komme ich schon 
          allein zurecht. Für die Heuernte stelle ich ein paar Leute ein.«
          »Really? Mastvieh?«, wiederholte Max interessiert. »Lohnt 
          sich das denn?«
          Der andere warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Wieso?«
          Max gab auf. Aus denen war nichts herauszukriegen. Er wünschte 
          sich weit, weit fort, doch nun musste er die Suppe auch auslöffeln, 
          die er sich eingebrockt hatte. Da konnte er genauso gut gleich zur Sache 
          kommen und es hinter sich bringen. Alles andere als unerschrocken betrat 
          er vermintes Gelände.
        Danke an den Diana Verlag/Verlagsgruppe Random House für die Veröffentlichungserlaubnis.