|  Leseprobe
Rechtsanwalt Carl von Sunna af Rosén saß im Oberlandesgericht 
        und wartete auf die Gerechtigkeit.Die Verhandlung gegen einen der sonderbarsten Mandanten, den er je gehabt 
        hatte, war abgeschlossen. In wenigen Minuten würden sie alle in den 
        Gerichtssaal zurückkehren, und der Richter würde den Angeklagten 
        auffordern, sich von seinem Platz zu erheben.
 Der Angeklagte – der dem jungen Max von Sydow ähnelte – 
        saß vor ihm auf einem Holzstuhl im Warteraum und schien seiner eigenen 
        Verhandlung gegenüber gleichgültig. Während der polizeilichen 
        Ermittlungen und auch im Gerichtssaal hatte der Angeklagte nur vor sich 
        hin gestarrt. Von Anfang an war dieser junge Mann, Martin Ager, stumm 
        geblieben, trotz der Anklage, die gegen ihn erhoben worden war. Einige 
        Journalisten würden später schreiben, dass er diese Mauer der 
        Apathie hätte durchbrechen müssen, um so die tragischen Geschehnisse 
        zu verhindern, die noch folgen sollten. Martin Agers Gesicht hatte etwas 
        Würdiges an sich und verriet keinerlei Gefühlsregung dem kommenden 
        Urteilsspruch gegenüber. Er schien aus einer anderen Zeit zu kommen.
 Hier im Warteraum saß Martin Ager vor Carl von Sunna af Rosén 
        genau so da, wie er die ganze Zeit auf der Anklagebank gesessen hatte. 
        Sein weißes Hemd war bis oben zugeknöpft, die blaue Hose frisch 
        gewaschen und gebügelt. Ager war groß, stets glatt rasiert, 
        und Rosén musste immer wieder seinen großen Adamsapfel anschauen, 
        der sich über dem Hemdkragen auf und ab bewegte, wenn er schluckte. 
        Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Bikerclubs trug er sein dünnes 
        Haar nicht in einem aggressiven Bürstenhaarschnitt, sondern glatt 
        gekämmt. Obwohl er erst fünfundzwanzig Jahre alt war, bewegte 
        er sich langsam, seine Hände lagen fast immer ruhig im Schoß, 
        seine Schritte waren verhalten.
 Jetzt saß er mit gesenktem Kopf da und schaute auf seine Hände. 
        Die Hände hatten etwas Weiches an sich. Sie waren zwar nicht schön, 
        aber sie wirkten irgendwie weiblich. Die Nägel waren mandelförmig 
        geschnitten und poliert, sodass sie wie Elfenbein glänzten, und das 
        Nagelbett war offensichtlich sorgfältig gepflegt. Rosén war 
        überzeugt davon, dass der Mann ihm gegenüber sich auch auf eine 
        altmodische Art und Weise ausgedrückt hätte, wenn er geredet 
        hätte.Die Zuschauerreihen waren bis auf den letzten Platz besetzt. Vor dem Gerichtssaal 
        und auch unter den Journalisten und den Zuschauern herrschte eine Stimmung, 
        die Rosén an einen Südstaatenmob vor einem Lynchversuch erinnerte, 
        wie er ihn während seines Studiums erlebt hatte. Und je lauter die 
        kollektive Forderung nach der strengsten Bestrafung für kriminelle 
        Motorradgangs gestellt wurde, umso mehr schien sich sein Mandant in sich 
        selbst zurückzuziehen.
 Am schlimmsten war es jedes Mal gewesen, wenn die Presse sie auf den Fluren 
        des Oberlandesgerichts überrumpelt hatte. Rosén stand immer 
        wieder das gleiche Bild vor Augen: Martin Ager umringt von Journalisten, 
        bedrängt von ihren Mikrofonen und Kameras. Ager blieb stehen wie 
        ein schwerfälliger Ochse, verlegen und sprachlos. Er starrte die 
        Journalisten um ihn herum nur an, mit einem Zug von Verletztheit im Blick, 
        als wäre ihm klar, dass etwas Schmerzhaftes vor sich ging. Bestenfalls 
        holten die Journalisten ein »Hä?« aus ihm heraus. Und 
        es gab immer jemand, der es schaffte, »Idiot!« zu rufen, bevor 
        es Rosén gelang, seinen Mandanten aus dem Kreis herauszuholen.
 Durch Nicken oder allenfalls eine Handbewegung, manchmal auch nur dadurch, 
        dass er die schweren Augenlider hob, gab Martin Ager zu erkennen, dass 
        er verstand, was Rosén sagte. Aber er hielt immer und unerschütterlich 
        den Mund.
 Was sollte man nur mit so jemandem anfangen? Zwar kam Martin Ager aus 
        dem Bikermilieu und musste schon allein deshalb für eine gefährliche 
        Person gehalten werden. In diesem Fall jedoch hatte man beschlossen, die 
        Zahl der anwesenden Bereitschaftspolizisten zu reduzieren. Ager verhielt 
        sich so teilnahmslos, dass man eher fürchtete, er könne sich 
        selbst etwas antun, als dass er versuchen würde, zu fliehen. Seine 
        Passivität hatte sogar Carl von Sunna af Rosén zweimal dazu 
        gebracht, die Beherrschung zu verlieren.
 Er hatte so laut geschrien, dass das Wachpersonal die Luke der Zelle geöffnet 
        und gefragt hatte, ob denn alles in Ordnung sei. Rosén hatte sich 
        wieder beruhigt, sich seinem Mandanten zugewandt und diesem erklärt, 
        dass er ein Urteil von achtzehn bis zwanzig Jahren für Mord riskiere, 
        wenn er sich nicht äußere. Oder aber er würde für 
        unzurechnungsfähig erklärt und in der Klinik von Säter 
        in Süd-Dalarna verschwinden. Wollte er denn auf dem gleichen Flur 
        wie der Massenmörder Quick sitzen? Wollte er für etwas verurteilt 
        werden, das er selbst nicht begangen hatte?
 Ager hatte währenddessen unbeweglich dagesessen, seine gepflegten 
        Hände im Schoß, und ihn mit blauen, betrübten Augen angestarrt. 
        Nichts deutete darauf hin, dass sein Mandant den Ernst dieser Worte begriff.
 Am liebsten hätte Rosén den Mann gepackt und kräftig 
        geschüttelt – ihn am Kragen hochgezogen und durch den Raum 
        geschleudert. Als Rosén die Worte »für etwas verurteilt 
        werden, das er selbst nicht begangen hatte« benutzte, hatte Ager 
        für einen kurzen Moment seinen Blick erwidert und dabei gelächelt, 
        so wie ein alter Mann ein Kind anlächelt, das nichts vom Ernst des 
        Lebens weiß. Es lag so viel Trauer in diesem Lächeln, dass 
        es den Rechtsanwalt Rosén verlegen machte. Hinterher hatte er versucht 
        zu bitten und zu argumentieren. Aber sein Mandant starrte schon wieder 
        auf den Boden.
 Das zweite Mal, als Rosén die Beherrschung verlor, war er aus der 
        Zelle marschiert, fest entschlossen, den Fall niederzulegen. In der folgenden 
        Nacht schlief er schlecht. Mehrmals wachte er abrupt aus einem Albtraum 
        auf, in dem sein Mandant zum Tode verurteilt wurde.
 Aus dem Fenster des Gerichtsgebäudes konnte Rosén im trüben 
        Augustlicht die Häuser auf Riddarholmen sehen. Sie schienen sich 
        in dem eiskalten Regen zusammenzukrümmen, der schräg von Riddarfjärden 
        hereingeweht kam und die Sicht auf Mälaren verhinderte. Der Wind 
        vom Meer her peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben, an denen das 
        Wasser in kleinen Bächen herunterlief. Falls sich Touristen bis unten 
        an den Kai verirrt hatten, würden sie statt eines der schönsten 
        Panoramen der Hauptstadt nur graue Schattierungen sehen. Rosén 
        schwitzte trotz des kühlen Augustwetters. Der Hausmeister des Gerichtsgebäudes, 
        ein schwerfälliger Mann aus Gotland, hatte offenbar die Heizung voll 
        aufgedreht.
 Carl von Sunna af Rosén wendete den Blick von den regennassen Fensterscheiben 
        ab. Er war Rechtsanwalt geworden, weil er an die Gerechtigkeit glaubte. 
        Und er war der Meinung, dass in diesem Fall großes Unrecht geschah.
 Der Staatsanwalt, die Medien und der gesamte Rechtsapparat waren besessen 
        von dem Gedanken, diesen Mann zu verurteilen. Die Reporter der Nachrichtenredaktionen 
        aller skandinavischen Fernsehsender berichteten täglich über 
        die neuste Entwicklung im Gerichtsverfahren gegen diesen Biker, der von 
        allen verachtet wurde. Rosén verfluchte die Tatsache, dass Ager 
        momentan bekannter war als Quick, die Estonia oder Jonas Gardell.
 Rosén selbst war der Meinung, dass es ausreichend Gründe gab, 
        an den widersprüchlichen Zeugenaussagen zu zweifeln. Aber je weiter 
        sich die Verhandlung zu Ungunsten von Ager entwickelte, umso mehr zeigten 
        sich die Geschworenen als eine geschlossene Gruppe, die nur eines wollte: 
        Rache. Selbst die Gerichtsstenografin, eine normalerweise reizende Frau 
        Mitte fünfzig, verbarg ihre Verachtung für Ager von Tag zu Tag 
        weniger.
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Ager wurde beschuldigt, einen Mann getötet und einen zweiten schwer 
          verletzt zu haben. Er war zwar groß und muskulös wie ein Ochse, 
          aber er war bei der Sache allein gegen fünf gewesen. Kein Mensch 
          mit einem Funken Verstand würde auf fünf Biker losgehen. Rosén 
          versuchte die Sache so darzustellen, dass die fünf mit seinem Mandanten 
          und dem Verstorbenen Streit angefangen hatten. In seiner Version der Geschichte 
          waren die fünf Zeugen die eigentlichen Schurken. Aber Schweden dürstete 
          nach Rache, und der Ruf nach Lynchjustiz hatte sich offenbar auch auf 
          Norwegen und Dänemark ausgebreitet.Danke an den Unionsverlag Zürich für die Veröffentlichungserlaubnis.
 Rosén war der Meinung, dass die Gesellschaft sehr wohl Rechenschaft 
          für ein begangenes Verbrechen fordern durfte. Aber die Hysterie um 
          die Bikerbanden in Skandinavien ließ keine sachliche Diskussion 
          mehr zu und nahm nicht einmal mehr Rücksicht auf die elementarsten 
          demokratischen Rechte. Denn auch wenn die Biker sich als Außenseiter 
          sahen, so hatten sie doch das Recht auf die gleiche Behandlung wie ein 
          Klempner oder ein Bankdirektor. Zumindest bis sie schuldig gesprochen 
          waren. Und für Rosén war dieser Mann unschuldig. Wenn er ihn 
          nur dazu überreden könnte, etwas zu sagen, dann wäre sicher 
          die Wahrheit schon längst an den Tag gekommen.
 Aber das war ihm nicht gelungen. Jetzt war es eine halbe Stunde her, dass 
          sie den Gerichtssaal verlassen hatten. Er fuhr sich mit der Hand über 
          die Stirn und schaute zu den Heizkörpern unter den Fenstern.
 Rosén beugte sich zu seinem Mandanten vor. Wenn schon die Gesellschaft 
          diesem Mann keine Gerechtigkeit zukommen lassen wollte, so musste er, 
          Carl von Sunna af Rosén, ein Mann von Ehre, das tun.
 »Sie 
          wissen, Ager«, sagte er und räusperte sich, »es gibt 
          einige Geschichten darüber, wie Gefangene aus genau diesem Warteraum 
          geflohen sind. Da gab es beispielsweise einmal einen Angeklagten, der 
          hat sich das Jackett seines Anwalts geschnappt, ist zum Fenster gegangen, 
          hat es aufgebrochen und ist rausgesprungen.«
 Rosén musterte Agers Gesicht. Der Mann saß mit gesenktem 
          Blick da und zeigte mit keiner Regung, ob er ihn verstanden hatte.
 Der Rechtsanwalt stand auf, zog sich seine teure Boss-Anzugjacke aus und 
          hängte sie über die Stuhllehne.
 »Ager, Sie müssen 
          wissen, dass dieser Mann, der es geschafft hat, zu fliehen …« 
          Er zog seine Brieftasche aus der Innentasche der Jacke heraus und zählte 
          offen die Geldscheine. »Er war verzweifelt. Er ist aus dem Fenster 
          hinunter auf die Straße gesprungen. Der Sprung kann wehtun, aber 
          er ist nicht gefährlich.«
 Rosén setzte sich wieder, krempelte sich die Hemdsärmel hoch 
          und sah seinem Mandanten direkt in die Augen. Er schob seine Brieftasche 
          wieder in die Innentasche und erzählte weiter, wie der verzweifelte 
          Gefangene abgewartet habe, bis sein Anwalt ihm den Rücken zukehrte. 
          In dem Moment habe er ihn niedergeschlagen.
 Rosén bemerkte, dass Agers Blick auf der Innentasche des Jacketts 
          ruhte, in der der Rand der Brieftasche zu sehen war. Es war keinerlei 
          Gefühl in Agers Blick auszumachen. Der Mann schaute abwechselnd auf 
          die Brieftasche und seine Hände.
 Rosén stand auf und drehte sich zum Fenster um. Er betrachtete 
          ruhig das, was er durch das Laub von der Fassade des Gamla Auktionsverket 
          auf der anderen Seite des gepflasterten Platzes sehen konnte. Als er seinen 
          Kopf ein winziges bisschen zur Seite drehte, konnte er im Augenwinkel 
          sehen, wie Ager aufstand. Carl von Sunna af Rosén fühlte einen 
          Sog wie von einem hochfahrenden Aufzug.
 Agers Kopf, immer noch vorgebeugt, schien nach oben hin aus seinem Blickfeld 
          zu verschwinden, dann kam die Kurve des vorstehenden Adamsapfels über 
          dem weißen, zugeknöpften Hemd ins Blickfeld. Rosén drehte 
          ihm den Rücken zu, nahm seine Brille vorsichtig ab und schob sie 
          in die Brusttasche seines Hemds. Er kniff die Augen fest zusammen und 
          blieb still stehen.
 Er hörte Agers Schritte durch den Raum. Der Mann blieb direkt hinter 
          ihm stehen, so nahe, dass Rosén den Geruch seiner Haut wahrnahm 
          – säuerlich und mit einem seltsamen würzigen Unterton, 
          etwas, das an Dschungel erinnerte.
 Als Rosén das Dach auf den Kopf fiel, hörte er die Stimme 
          des Mannes. »Danke«, sagte er, und Rosén stellte fest, 
          noch bevor er in Ohnmacht fiel, dass die Stimme seines Mandanten genau 
          den würdevollen, ruhigen Ton traf, den er sich vorgestellt hatte.
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